Zweibeiner sehen dich an
Aber sicher war es so, daß er sich mit der Zeit an die Gerichte seiner Nachbarn gewöhnen würde.
Er hob die Tasse, bewegte die Lippenmuskeln wie er es gelernt hatte und trank. Er war stolz auf seinen Erfolg, er hatte ihn viel Mühe gekostet. Beim letzten Schluck gab es ein lautes Geräusch. Einige Leute sahen ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Anscheinend gefiel ihnen das Geräusch nicht, das er beim Trinken erzeugt hatte. Er setzte die Tasse aufgeregt ab und blickte auf seine Armbanduhr. Es war elf. Er unterdrückte das Verlangen, die zweite Armbanduhr ebenfalls zu betrachten, denn mittlerweile hatte er herausgefunden, daß man niemals zwei Uhren gleichzeitig trug. Vielleicht funktionierten die Uhren so exakt, daß man sie nicht zu vergleichen brauchte.
Der Tisch, an dem er saß, wurde plötzlich von einem hellen Lichtschein überstrahlt. Automatisch sah er auf. Ein Automat glitt an den Tischen vorbei, bewegte sich von einem Platz zum anderen. An seiner Vorderseite klaffte ein großes Loch und eine Leuchtschrift signalisierte „Leere Teller bitte!“ Der junge Mann schob das benutzte Geschirr in die Maschine hinein und das Loch verschloß sich klickend. Die Leuchtschrift verschwand und eine andere blinkte „Dankeschön!“
Die Höflichkeit der Maschine erzeugte ein warmes Gefühl im Innern des jungen Mannes. Er stand auf und verließ den Erfrischungsraum. Als er den Ausgang passierte, vor dem eine Menschenschlange auf Einlaß wartete, stand er wieder der dunkelhaarigen jungen Frau gegenüber. Sie starrte ihn an. Offensichtlich war sie ebenso erschreckt wie er. Bewegungslos standen sie voreinander, dann hob die junge Frau wortlos die Hand und schlug ihm ins Gesicht.
Der Schlag kam so unerwartet und schmerzhaft, daß der junge Mann unfähig war, sich zu bewegen. Die junge Frau wandte sich um und ging weg. Die Umstehenden starrten ihn an und flüsterten miteinander.
Noch nie zuvor hatte ihn jemand geschlagen. Der junge Mann betastete mit einer Hand seine sich plötzlich taub anfühlende Wange. Den Rest des Tages verbrachte er damit, daß er durch das Warenhaus ging, halbblind und ein wenig zitternd. Seine Freude an den hellen Farben und den verschiedenen Formen der ihn umgebenden Gegenstände begann zu erlöschen. Er wartete auf eine Gelegenheit, in seinen Turm zurückzukehren. Dieser Wunsch beherrschte seine Gedanken.
Es mußte etwa 18.30 Uhr sein. Die Menschen bewegten sich auf die Ausgänge zu, als der junge Mann den Laden durchquerte, bis er den Vorplatz der Fahrstühle erreichte. Heute erschienen ihm die Menschen im Kaufhaus als viel zahlreicher und er war auch ängstlicher als sonst. Ein Mann mit einer Kamera kam an ihm vorbei, dann noch einer, dann zwei weitere. Der junge Mann hatte sich oft die Zeit damit vertrieben, kameratragende Männer, dicke Frauen oder schreiende Kinder zu zählen, aber heute machte das keinen Spaß. Dann kamen Scharen von Uniformierten: nicht nur die Männer in den blauen Kombinationen der Warenhaus-Privatpolizei, sondern auch solche in weiß, rot, gold … Er kam an zwei Blauuniformierten vorbei, die sich aufmerksam umsahen. Einer kam auf den jungen Mann zu, als er ihn erblickte und schaute dabei auf einen Gegenstand in seiner Hand.
„Einen Augenblick, mein Herr!“ Der junge Mann sprang zur Seite, denn er hatte Angst. „Halt!“ schrie der Warenhauspolizist plötzlich und griff nach ihm. Der junge Mann wandte sich um und rannte auf das Gitter zu. Aus allen Richtungen erscholl das Geklingel der Alarmglocken. Fußtritte klapperten. Er sprang hoch, ergriff die Gitterstangen und begann zu klettern. Auf halbem Wege sah er sich um. Niemand folgte ihm, aber tief unter ihm entwickelte sich eine starke Aktivität.
Die Uniformierten hatten sich gesammelt und falteten einen blauen Gegenstand auseinander. Er musterte die Männer in den weißen Uniformen, aber sie schienen nicht die Absicht zu haben, hier einzugreifen. Sie standen nur da mit gespreizten Beinen und starrten zu ihm herauf. Er kletterte weiter.
Als er dem Ende des Gitters nahekam, erschienen über ihm plötzlich die Köpfe dreier Männer. Der junge Mann machte eine Pause. Die drei Männer über ihm trugen blaue Uniformmützen, mithin gehörten sie zur Warenhaus-Polizei und nicht zu den Angestellten, die hier oben arbeiteten. Die Köpfe verschwanden für einen Moment und tauchten wieder auf. Jetzt konnte er sie bis zum Gürtel sehen.
Etwas Graues und Wolkiges fiel auf ihn herab. Der junge Mann duckte sich, aber
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