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Zweibeiner sehen dich an

Zweibeiner sehen dich an

Titel: Zweibeiner sehen dich an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Damon Knight
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darauf zu. Vor ihm hatte man eine Plattform errichtet, auf der ein schwitzender, dunkelhäutiger Mann ein weites, violettes Stoffband um eine junge blonde Frau wickelte, die regungslos dastand und, die Arme erhoben, in die Ferne starrte. Beide, der Mann und die Frau, leuchteten in unwirklichen Farben und besaßen die gleichen schwarzen Umrisse wie die Personen, die er im Kino gesehen hatte. Er begriff, daß dies hier eine andere Art von gesteuerter Illusion war, denn die beiden Personen waren nicht wirklich dort.
    Der Stoff nahm Formen an und wurde zu einem Kleid. Der dunkelhäutige Mann legte ein Metallstück an die Hüfte der Frau, hob damit das Kleid an und zog es enger um ihren Körper, anschließend wiederholte er dieselbe Prozedur an ihrer anderen Seite. Er strich vorsichtig mit der Hand über das Kleid, schnitt in der Höhe ihres Rückens einen Schlitz und zog das fertige Kleid über ihren Kopf.
    Der Körper der Frau war schön und lediglich in zwei winzige Teile aus dunkelblauer Spitze gehüllt. Als er sie ansah, fühlte sich der junge Mann ein wenig unbehaglich. Das gefiel ihm nicht. Als er sich umwandte und versuchte, aus der Menschenmenge herauszugelangen, tauchte eine dunkelhaarige, blasse Frau vor ihm auf, die ihn überrascht ansah, dann jedoch lächelte.
    „Martin“, sagte sie und ergriff seinen Arm. Der junge Mann entwand sich ihrem Griff. „Ich kenne Sie nicht, meine Dame“, erwiderte er nervös.
    „Bitte?“ Das Gesicht der Frau veränderte sich mit einem Schlag. Als er weiterging, kam sie hinter ihm her. „Martin Naumchik –“
    Der junge Mann wandte sich verunsichert um, dann tauchte er in der nächsten Menschenansammlung unter. Er drängte sich mühsam zwischen den Leuten hindurch, um die Plattform herum, drehte sich jedoch des öfteren um, um nachzusehen, ob sie ihm immer noch folgte. Über ihm wendete der dunkelhäutige Mann das Kleid, streifte es der jungen Frau über die Schultern und zog es über ihren Körper herunter. Es war unmöglich, die beiden von hinten zu betrachten, denn sie drehten sich anscheinend ständig mit. Auf der gegenüberliegenden Seite scherte der junge Mann aus der Menge aus und sah sich um. Im Moment war die dunkelhaarige Frau nicht zu sehen, aber er suchte sich dennoch einen verworrenen Weg, um etwaige Verfolger abzuschütteln.
    Als er den freien Platz vor den Aufzügen überquerte, stellte er fest, daß die Leute ihn bereits neugierig musterten, anscheinend, weil ihnen sein ständiges Umdrehen merkwürdig vorkam und sie mißtrauisch machte. Er schüttelte den Kopf. Das Zusammentreffen mit der dunkelhaarigen Frau hatte ihn völlig aus dem Gleis geworfen, denn erst jetzt wurde ihm bewußt, daß zum Menschsein mehr gehörte als ein Name, Kleidung und persönlicher Besitz. Menschen hatten Freunde und Bekannte. Der Gedanke verursachte ihm Unbehagen. Wie sollte er sich mit all diesen Leuten verständigen? Was erwarteten sie von ihm? Der Komfort und die Sicherheit seines Zufluchtsortes erschienen ihm als illusorisch. Einen Moment lang sehnte er sich nach dem sauberen kleinen Raum im Hamburger Zoo. Aber die Erinnerung daran begann bereits zu verblassen und entfernte sich mit solcher Schnelligkeit, daß sie ihn nicht lange beschäftigte. Seine Welt war dieser gigantische, glitzernde Raum mit dem ständigen Stimmengemurmel, den aufregenden Gerüchen, den klickenden Fahrstühlen, den roten, grünen und blauen Schriftzeichen, die unter der Decke pulsierten.
    Das beste wäre es wahrscheinlich, von hier fortzugehen, den Namen zu ändern und in eine Stadt zu gehen, in der ihn niemand kannte. Dort konnte er vielleicht unbehelligt leben. Aber er war sich nicht sicher, daß er einen solchen Ausbruch aus seiner Umgebung ungefährdet überstehen würde. Gab es anderswo auch Warenhäuser wie dieses? Er mußte zugeben, daß er darauf keine Antwort wußte. Er hatte zwölf Jahre in Hamburg gelebt, aber er hatte keine Ahnung, was hinter dem Zoogelände gewesen war. Andere Städte waren für ihn bloß Namen.
    Eine Stunde später dachte er im Erfrischungsraum des Warenhauses, über Kaffee und Brötchen gebeugt, noch immer darüber nach. Der Kaffee, den er trank, war sein erster. Der Geschmack war unerwartet angenehm, süß und warm. Es war sonderbar, daß er jetzt bereits ganz anders über das Essen der Menschen dachte als früher. Seit seiner ersten schlechten Erfahrung in dem Café war er mißtrauisch geworden, hatte nur Früchte und Brot gegessen, manchmal auch ein heißes Würstchen.

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