Zweiherz
auch wenn er das vielleicht nicht weiß.
Kaye liebte Will. Jetzt auf andere, kompliziertere Weise, als sie es all die Jahre getan hatte. Sie hatte ein Phantom geliebt, ein Bild ihrer Träume. Der Will, der jetzt neben ihr im Jeep saß, war schmerzhaft lebendig. Ein junger Mann voller Hoffnung und Angst. Und voller Widersprüche. Es würde nicht einfach sein, ihn zurückzugewinnen, weil sie nicht wusste, was ihn gefangen hielt. Ihre wilde Sehnsucht nach ihm pochte in ihr wie eine offene Wunde. Sie hatte ihm längst vergeben, dass er ihre Briefe nicht gelesen hatte. Er hatte einfach Angst gehabt, dass es wehtun würde. Und diese Angst konnte sie ihm verzeihen.
Sie hoffte, dass Will irgendwann reden würde, dass er ihr anvertrauen würde, was ihn bedrückte. Aber sie durfte ihn nicht drängen und das war unsagbar schwer.
Will fuhr inzwischen 60 Meilen pro Stunde, bei einer Verkehrskontrolle würde er damit gerade noch durchkommen. Und er fuhr gut, aber sie hatte auch nichts anderes erwartet. Seine dunklen Hände mit den aufgeschrammten Fingerknöcheln hielten das Lenkrad sicher.
»Erstaunlich, wie ruhig Aquilars Mutter die Nachricht aufgenommen hat«, sagte Kaye.
»Sie hat uns nicht gezeigt, was sie fühlt«, erwiderte Will. »Für sie waren wir Fremde.«
»Wirst du Maria wiedersehen?« Die Frage war ihr entschlüpft, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte, und sie bereute es sofort. Ärgerlich biss sie sich auf die Lippen.
Will nahm den Fuß vom Gaspedal und fuhr langsam weiter. »Was?«
»Vergiss es.«
Er schüttelte den Kopf, ein Lächeln auf den Lippen. »Du denkst, ich habe vor, was mit Maria anzufangen?«
Kaye räusperte sich. »Sie sieht toll aus.« Sie war die Miss Navajo Nation.
»Ja«, sagte Will schmunzelnd. »Das tut sie. Und ich mag sie auch. Maria ging in meine Klasse, vielleicht erinnerst du dich. Sie hat mich immer abschreiben lassen.« Er schwieg eine Weile, als die Erinnerung ihn einholte. Dann sagte er: »Ich habe einen Freund gesucht, Kaye.«
Etwas in seiner Stimme ließ sie zu ihm hinübersehen. »Aber ich war doch da. Warum bist du nicht zu mir gekommen?«
»Weil ich jemanden brauchte, der keine Erwartungen an mich hat.«
Kayes Augen füllten sich mit Tränen. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte, und es tat weh.
Will bremste und lenkte den Jeep nach rechts auf einen unbefestigten Fahrweg.
»Was hast du vor?«, fragte sie und klammerte sich am Griff über der Tür fest, denn der Fahrweg war ausgewaschen und holprig.
»Ich muss herausfinden, was diese Männer letzte Nacht im Canyon wollten. Wenn ich nicht wüsste, dass man einen Felsen nicht mitnehmen kann, würde ich denken, sie hatten vor, etwas sehr Wertvolles zu stehlen.« Er blickte hinüber zu Kaye. »Aber selbst die bilagáana können nicht einfach einen ganzen Felsen mitnehmen, oder?«
Kaye zuckte mit den Achseln. Sie hatte keine Ahnung, wovon Will da redete.
An jener Stelle, wo das Gewicht des Pickups den Abdruck von Aquilars Beinen in den feuchten Sand gedrückt hatte, hielt Will an und stieg aus. Kaye tat es ihm nach. Ihr war unheimlich zumute an diesem Ort, an dem das Unglück geschehen war. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es im Canyon war, wenn Dunkelheit ihn ausfüllte. Kaye schauderte. Dennoch war sie froh, bei Will sein zu können.
Will lief um den Jeep herum und suchte nach Spuren. Sein Vater hatte ihm einst beigebracht, wie man die verschiedenen Abdrücke am Boden deuten konnte, worauf man achten musste, um sich nicht täuschen zu lassen. Er fand die Abdrücke eines Kojoten (die beiden äußeren Zehen waren größer als die inneren) und seine eigenen. Und da waren noch andere Spuren. Hufspuren (vielleicht von Aquilars Pinto) und Spuren von spitz zulaufenden Stiefeln. War vielleicht einer der Männer noch einmal zurückgekommen? Was war in der vergangenen Nacht hier geschehen?
Will blickte den Abhang hinauf.
»Da oben ist Aquilar ausgerutscht«, sagte er und zeigte auf den Geröllhang.
»Er hätte sich den Hals brechen können«, sagte Kaye leise. Vom felsigen Überhang bis ins Flussbett waren es knapp vier Meter. »Und wie bist du hier runtergekommen?«
Will zeigte noch einmal nach oben. »Auf demselben Weg. Aber ich bin das letzte Stück gesprungen, während Aquilar geflogen ist.«
Sie wurde bleich und öffnete ihren Mund, aber es kam kein Ton heraus.
»Alles in Ordnung?«, fragte Will.
»Ja, es geht schon.«
Sie stiegen wieder in den Jeep, und Will schaltete den Allradantrieb an, damit die
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