Zweiherz
vorher sollten wir mit Granpa sprechen.«
Der alte Navajo saß auf der Veranda in seinem Schaukelstuhl und rauchte.
»Yá’át’ééh« , begrüßten sie ihn einstimmig.
Sam nickte und brummelte ebenfalls eine Begrüßung. »Wie geht es deinem Freund?«, fragte er seinen Enkelsohn.
»Aquilars Beine sind gebrochen«, antwortete Will. »Er wird den ganzen Sommer im Krankenhaus verbringen müssen. Aber Kaye kann dir das alles genauer erklären.« Er schob sie zu dem alten Mann und verschwand durch die Fliegentür ins Haus.
Kaye setzte sich auf das alte Sofa und erzählte Wills Großvater noch einmal ausführlich, was passiert war. Ungläubig schüttelte der Alte den Kopf.
»Ist in letzter Zeit jemand hier gewesen?«, fragte Kaye. »Hattest du Besuch von Fremden?«
Sam nickte. »Ein Mann war hier. Hat gefragt, wie er zum Canyon de Chelly kommt.«
»Wann war das?« Zwar war es nichts Ungewöhnliches, dass Touristen nach dem Weg fragten, denn die Straßenführung im Reservat war sehr verwirrend, selbst wenn man eine Karte hatte. Doch unter diesen Umständen beschlich Kaye das Gefühl, der Mann könnte kein gewöhnlicher Tourist gewesen sein. Vielleicht hatten sie nun eine erste Spur.
Der Alte rechnete eine Weile. »Vor ein paar Wochen. Kurz bevor Will zurückkam.«
»Was für einen Wagen hatte er?«
Sam zog an seiner Pfeife. Blauer Rauch kam zwischen seinen Lippen hervor. Er nickte hinüber zu Kayes Wagen. »Er sah aus wie deiner.«
»Der Mann fuhr einen roten Jeep?«
»Schwarz, aber wie deiner.«
Ein Wrangler, dachte Kaye.
Das Typische für einen Jeep Wrangler waren die klassischen runden Scheinwerfer und die sieben Längsstreben im Kühlergrill. Kaye war sicher, dass Sam genau das gesehen hatte. Es war mühsam, etwas aus dem alten Mann herauszubekommen, aber mit seiner Aussage hatte er ihnen einen wichtigen Hinweis gegeben. Die Leute im Res fuhren keine Jeep Wrangler. Die meisten fuhren GMC Pickup Trucks, alte verbeulte Fords und Dodge. Neue, teure Wagen gab es nur selten und sie fielen auf. Sie selbst hatte vor Kurzem erst einen schwarzen Wrangler gesehen, wusste nur nicht mehr, wo.
»Hast du den Mann ins Haus gelassen, Großvater?«
Sam hörte auf zu schaukeln. »Er bat um ein Glas Wasser. Ich war höflich.«
»Würdest du sein Gesicht wiedererkennen?«
»Weißer Mann«, sagte er, »kein Gesicht.«
»Kein Gesicht?« Kaye schüttelte verwundert den Kopf. »Du hast mit ihm gesprochen und ihn in dein Haus gelassen, also musst du ihn doch auch gesehen haben.«
»Nicht gut genug.« Sam Roanhorse legte die knotige Rechte über seine Augenlider. »Meine Augen...«
Kaye beugte sich über das dunkle Gesicht des alten Mannes und zog die Stirn in Falten.
»Alles verschwindet im Nebel, Tochter. Die Farben, die Menschen, die Dinge. Manchmal sehe ich doppelt.«
Kaye erkannte die graue Verfärbung der Pupillen. »Der graue Star«, sagte sie. »Das kann man operieren, Großvater.«
»Operieren?« Sam machte ein misstrauisches Gesicht.
»Herausschneiden!«
»Du meinst, die Augen herausschneiden?«
Kaye schüttelte den Kopf. »Nicht die Augen, die… die...«
»Den Nebel«, half ihr Will, der hinter sie getreten war. »Du wirst langsam blind, Großvater. Aber im Krankenhaus kann man dir bestimmt helfen.«
»Ich lasse niemanden an meinen Augen herumschneiden«, brummte der alte Mann. »Schon gar nicht in einem bilagáana -Krankenhaus.«
»Es ist nichts Schlimmes«, beteuerte Kaye, »nur eine Routineoperation. Sie setzen dir neue Linsen ein, das dauert keine zehn Minuten. Du bekommst eine schicke Brille und kannst alles wieder sehen.«
»Sogar den Fliegendreck am Fenster«, bekräftigte Will.
»Nicht meine Augen«, sagte Sam, der keine Lust verspürte zu scherzen. »Ich werde nicht zulassen, dass sie an meinen Augen herumschneiden.«
Will zog Kaye fort. »Ich rede später mit ihm«, raunte er ihr zu. »Lass uns jetzt fahren, ich will es hinter mich bringen.«
Nach schweigsamer Fahrt parkte Kaye den Jeep auf dem kleinen Parkplatz vor dem Gebäude der Stammespolizei in Window Rock. Es war Freitagnachmittag. Wenn Lieutenant Thomas Totsoni nicht schon Feierabend gemacht hatte, dann würden sie ihn in dem flachen gelben Sandsteingebäude finden.
Bevor Kaye und Will das Amtsgebäude betraten, warfen sie noch einen Blick auf den roten Felsen mit dem kreisrunden Loch in der Mitte. Window Rock. Es war einer der heiligen Berge, und er bewachte eine Quelle, an der die Navajo-Medizinmänner das Wasser für ihre
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