Zweiherz
abermals seinen Kopf. »Nicht, was du denkst. Es ist hier drin.« Er tippte an seinen grauen Schädel.
»Im Kopf?«
»Böse Geister.«
Jetzt hatte Kaye genug. »Ach, hör doch auf damit, Großvater! Du weißt genau, dass ich nichts von solchem Aberglauben halte.«
Doch Sam ließ sich von Kayes Worten nicht verärgern und auch nicht von seinen Befürchtungen abbringen. »In den Nächten streicht Graubein Kojote ums Haus«, sagte er zu dem Mädchen. »Manchmal höre ich Will in seinem Zimmer reden, obwohl er allein ist. Er ist nachts immer sehr lange wach. Ich glaube, er liest Briefe.«
»Er liest Briefe ?«, fragte Kaye überrascht. »Du meinst, er liest meine Briefe?«
Sam nickte. »Schon möglich.«
»Was kann ich bloß tun?« Kaye wollte Will so gerne helfen, aber wie sollte sie das bewerkstelligen, wenn er sich nicht helfen lassen wollte?
»Tu einfach, was getan werden muss«, erwiderte der alte Mann.
Mit einem Mal blickte Kaye Sam dankbar an. »Du hast vollkommen recht, Großvater. Zuerst werde ich mich um dich kümmern. Ich fahre jetzt nach Holbrook, um Aquilar zu besuchen, und werde gleich einen Termin ausmachen, an dem wir deine Augen untersuchen lassen.«
Sam murmelte unwillig etwas, das sie nicht verstand, aber er widersprach ihr auch nicht. Mehr an Einverständnis konnte Kaye nicht von ihm erwarten. Sie erhob sich und wusch das Geschirr in der Spüle. Dann verabschiedete sie sich von Sam und sagte: »Ich habe ein Pferd für Will. Sag ihm das, wenn er irgendwann mal wieder nach Hause kommt.«
Kaye fuhr nach Holbrook ins Krankenhaus und auf dem Gang vor Aquilars Zimmer traf sie auf seine Schwester Maria. Sie begrüßten einander zurückhaltend. Maria sah toll aus, Kaye hatte auch nichts anderes erwartet. Sie war eine sehr gepflegte Navajo mit intelligenten dunklen Augen, in denen die Traurigkeit allerdings seit Neuestem einen dauerhaften Platz gefunden zu haben schien. Aquilars große Schwester trug Silberschmuck von ausgesuchter Schönheit. Ringe und breite Armreifen aus geschmackvoll getriebenem Silber mit himmelblauen Türkisen. Dadurch zeigte sie, dass ihre Familie nicht arm war. Natürlich war Maria stolz darauf, eine Navajo zu sein, genauso wie sie selbst.
»Geht es Aquilar besser?«, fragte Kaye.
»Er hat noch starke Schmerzen«, antwortete Maria, »aber es wird schon werden. Sie geben ihm was.«
»Sind seine Eltern bei ihm?«
»Ja, Mutter und Vater und unsere beiden anderen Geschwister.« Maria legte Kaye eine Hand auf die Schulter.
»Keine Sorge, meine Familie ist Will nicht böse. Er hat keine Schuld an dem, was passiert ist. Wir machen uns nur Sorgen um Aquilar. Seine Beine sind noch so geschwollen. Der Arzt sagt, das würde sich bald geben. Hoffentlich behält er recht.«
Aquilars Familie kam aus dem Krankenzimmer. Seine Eltern und die beiden älteren Brüder begrüßten Kaye mit freundlichem Nicken. Aber Kaye wusste, dass sie niemals zeigen würden, was sie wirklich fühlten.
»Wo ist Will?«, fragte Maria. »Aquilar redet ständig von ihm. Er wird enttäuscht sein, weil er nicht mit dir gekommen ist.«
Kaye hob die Hände. »Ich weiß. Ich wollte ihn mitbringen, aber er war nicht zu Hause. Deshalb bin ich allein gekommen.«
»Mein kleiner Bruder wird fett werden, wenn er die alle isst«, sagte Maria und wies auf die große Pralinenschachtel, die Kaye in ihren Händen hielt. Kaye lächelte nun doch, und Maria nickte mit dem Kopf in Richtung Zimmertür, bevor sie ihrer Familie hinterhereilte.
Aquilar saß aufrecht im Bett. Der Besuch seiner Familie schien ihn angestrengt zu haben, aber als Kaye ihm die Schokolade auf den Nachtschrank legte, erhellte ein Lächeln sein Gesicht.
» Yá’át’ééh , Schwester«, sagte er, was aus seinem Munde beinahe wie eine Liebeserklärung klang. »Wo ist Will?«
Kaye musste ein zweites Mal zugeben, dass sie es nicht wusste. »Er geht mir aus dem Weg, Aquilar«, beklagte sie sich. »Ich weiß nicht, was mit ihm los ist und wie ich an ihn herankommen soll. Habt ihr viel geredet, da oben im Hogan? Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?«
Aquilar zog kurz die Mundwinkel nach unten. »Ich habe geredet. Will hat zugehört.«
»Ist dir nichts aufgefallen an ihm? Nichts merkwürdig vorgekommen an seinem Verhalten?«
Aquilar seufzte. »Wenn ich fünf Jahre im Gefängnis gesessen hätte, würde ich mich vermutlich auch merkwürdig verhalten. Ich mag Will, so wie er ist.«
»Ich mag ihn auch«, bemerkte Kaye verdrossen. »Ich habe
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