Zweiherz
ganz verloren gefühlt. Charlie hat nichts davon gemerkt. Er war wohl zufrieden.«
Kaye stand auf und legte ihrer Freundin einen Arm um die Schultern. »Vielleicht braucht auch das seine Zeit«, sagte sie. »Vielleicht muss man es erst lernen, bevor es richtig schön werden kann.«
Sie und Teena hatten sich immer wieder ausgemalt, wie es sein würde: das erste Mal mit einem Jungen zu schlafen. Teenas Eltern waren bei diesem Thema sehr zurückhaltend gewesen, und da das Mädchen wusste, dass spezielle Fragen ihre Mutter in Verlegenheit bringen würden, hatte sie ihr keine gestellt.
Sophie hatte Kaye nach ihrer kinaaldá aufgeklärt und ihr alle Fragen ausführlich beantwortet. Aber seit zwei Jahren hatte Kaye keine Mutter mehr, die sie fragen konnte. Es war ihr nichts anderes übrig geblieben, als auf ihren Körper zu hören. Sophie hatte immer behauptet, die meisten jungen Mädchen würden zu wenig auf den eigenen Körper hören und sich zu allem verleiten lassen, was die Jungs in ihrem stürmischen Forscherdrang von ihnen erwarteten. Wie es aussah, war es Teena so ergangen.
»Ja«, sagte Teena. »Vielleicht hast du recht.«
»Liebst du Charlie?«
Teena nickte. »Ja. Aber er macht mir auch Angst.«
»Ist er immer noch mit diesen Leuten zusammen?«
»Er ist am Leben, also wird er noch dazugehören.«
Kaye umarmte ihre Freundin noch einmal fest. »Tu nur, was du wirklich willst, Teena. Aber wenn du Charlie liebst, dann gibt ihm das vielleicht die Kraft, sich von diesen Leuten zu lösen.«
»Das wäre schön«, sagte Teena leise. »Und ich hoffe, du findest bald heraus, woran du mit Will bist.«
Das hoffe ich auch, dachte Kaye. Sie war Will Roanhorse versprochen. Oder besser: Will hatte ihr versprochen, sie zu heiraten. Ein Versprechen, das für sie bindend war, bis jetzt. Wenn sie ehrlich zu sich selbst sein wollte, musste sie zugeben, dass sie von Will mehr erwartet hatte. Mehr Zuneigung und Zärtlichkeit. Auch Vertrauen. Ein bisschen davon bekam sie ja, aber eben nur ein bisschen.
Die meisten Navajo-Mädchen aus ihrer Klasse waren längst verheiratet und manche hatten schon Kinder. Ihre weiße Freundin Shelley war schon mit fünfzehn keine Jungfrau mehr gewesen und Teena war es nun auch nicht mehr. Nur sie, Kaye, musste weiterhin mit ihren Vorstellungen leben. Ihre Träume, Wünsche und Sehnsüchte waren die einer jungen Frau. Aber Will behandelte sie, als wäre sie immer noch zwölf Jahre alt.
14. Kapitel
A m nächsten Tag brachte Kaye das Essen schon zeitig zu Großvater Sam. Sie aß mit ihm gemeinsam, erzählte von der Reise ihres Vaters und war enttäuscht, Will wieder nicht anzutreffen. Seit er sie im Canyon geküsst hatte (oder war das vielleicht doch nur ein Traum gewesen?), hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Der alte Indianer bemerkte ihren abwesenden Blick und las ihre Gedanken. »Du bist sehr ungeduldig, Tochter«, sagte er.
»Ungeduldig?« , wiederholte Kaye gekränkt. »Will ist schon so lange wieder hier, und wir haben uns kaum gesehen, geschweige denn über uns geredet. Nie ist er zu Hause. Er kann mir ruhig sagen, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will. Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin.«
»Das ist Unsinn.« Sam schüttelte den Kopf. »Die Dinge brauchen nun mal so lange, wie sie eben brauchen. Ungeduld, das ist die weiße Hälfte in dir.«
Für den alten Mann war der letzte Satz nur eine Feststellung gewesen, doch für Kaye klang er wie ein Vorwurf. »Bin ich deshalb nicht gut genug für Will, weil ich halb weiß bin? Das hat ihn doch früher nicht gestört!« Sie hatte schon wieder Tränen in den Augen, hoffte aber, dass der Alte sie nicht sehen konnte.
Doch Sam Roanhorse schien die Tränen in Kayes Stimme gehört zu haben. »Will denkt, er wäre nicht gut für dich, meine Tochter. Doch du hast recht: Etwas stimmt nicht mit ihm. Vielleicht liegt es an der langen Zeit, die er im Gefängnis war. Aber ich fürchte, da ist noch etwas anderes, das ihn quält.«
Kaye sah Sam erschrocken an. »Glaubst du, er nimmt Drogen?« Hatte Will sich vielleicht mit einer Gang eingelassen wie Charlie Tsoosie und war deshalb nie zu Hause? Kaye dachte an ihre Freundin Teena und wie unglücklich die über Charlies anderes Leben war.
Der alte Indianer schüttelte den Kopf. »Nein, keine Drogen. Ich glaube, Will ist krank.«
»Krank? Dann muss er zu einem Arzt.« Lauter schreckliche Krankheiten schwirrten Kaye durch den Kopf, an denen Will leiden könnte.
Sam Roanhorse schüttelte
Weitere Kostenlose Bücher