Zweiherz
obwohl schon Abend war, und er schwitzte, dass ihm das Hemd am Rücken klebte. Kaye setzte sich neben ihn und wartete. Sie musste geduldig sein, denn zuerst würde er ihr etwas ganz anderes erzählen und nicht das, was sie hören wollte. Das war typisch für die Navajos: Nie würden sie mit der Tür ins Haus fallen. Zuerst wurde um den heißen Brei herumgeredet. In diesem Fall empfand Kaye das kaum zumutbar, aber sie schwieg tapfer und wartete darauf, dass der Onkel zu reden anfing.
»Es wurde noch eine Felszeichnung gestohlen«, sagte er schließlich. »Oben im Cow Canyon gleich hinter Toadlena.«
»Das ist schlimm.« Kaye runzelte die Stirn, denn damit hatte sie nicht gerechnet. »Und, was passiert jetzt?« Sie war sich so sicher gewesen, dass die Diebe nach der Sache mit Aquilar das Weite gesucht und das Reservat längst verlassen hatten. Der Gedanke, dass die Männer noch hier in der Nähe waren, verursachte ihr ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
»Dort wurde auch ein schwarzer Jeep gesehen.« Thomas holte tief Luft. »Wer immer das tut, er stiehlt nur Zeichnungen, die sich auf Privatland befinden. Kaum jemand weiß von der Existenz dieser alten Felszeichnungen, meist nur die Familien, denen das Land gehört. Einer der Diebe muss sich sehr gut auskennen.«
»Ein Navajo also.« Der Gedanke, dass ein diné in die Sache verwickelt sein sollte, war beschämend. »Wie schaffen sie das bloß?«, fragte Kaye. »Das Herausschneiden der Felszeichnungen ist immerhin mit viel Arbeit und großem Aufwand verbunden. So eine Steinplatte ist doch schwer.«
Thomas nahm einen tiefen Zug aus seiner Coladose. »Sie haben ein Notstromaggregat und einen ziemlich guten Steinschneider. Damit scheint es zu funktionieren. Und so viel Aufwand ist das gar nicht, wenn man überlegt herangeht.«
»Aber es macht Krach.«
»Die Gegenden sind abgelegen, aber immer mit einem Kleinlaster erreichbar. Und sie arbeiten nachts, wenn kein Navajo mehr unterwegs ist. Ich muss schnellstens herausfinden, wo es noch Zeichnungen gibt, von denen die Öffentlichkeit nichts weiß und die mit dem Auto erreichbar sind. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als sie zu bewachen.« Thomas starrte hinunter auf Window Rock. Der Ort wirkte wie ausgestorben. Es war einfach zu heiß.
Kaye scharrte mit den Füßen im Sand. »Onkel Thomas, eigentlich sind wir doch hier heraufgefahren, weil du etwas über Will herausgefunden hast. Ich bin jetzt bereit zu hören, was du weißt.«
Der Polizist nickte. »Bist du dir ganz sicher?«
»Ich liebe ihn«, antwortete Kaye, ohne zu zögern.
»Also gut.« Thomas erhob sich. Sein glattes blauschwarzes Haar, das er im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden hatte, glänzte in der Abendsonne.
Kaye liebte ihren Onkel, und sie wusste, dass er sie liebte. Aber jetzt hatte sie Angst vor dem, was er ihr sagen wollte. Wenn man Fragen stellt, sollte man auch stark genug sein, die Antworten zu ertragen , hatte ihre Mutter immer gesagt.
»Ich weiß nicht, was dir damals von deinen Eltern erzählt wurde, als Will ins Gefängnis kam«, begann Thomas. Er machte eine Pause, aber Kaye wusste, dass er keine Antwort von ihr erwartete, sondern gleich fortfahren würde. »Will war auf den Direktor seiner Schule losgegangen, nachdem er durch das Fenster in dessen Wohnung auf dem Schulgelände eingedrungen war. Dabei stürzte der Mann so unglücklich mit dem Kopf gegen einen Glastisch, dass er eine Woche später an seinen Kopfverletzungen starb.«
Thomas begann umherzulaufen, und Kaye starrte auf die Muster, die die Profile seiner Schuhsohlen im roten Staub hinterließen. Sie war nervös. Was der Onkel ihr da erzählte, wusste sie bereits. Worauf wollte er hinaus?
»Das Gericht beantragte eine relativ milde Strafe für Will, aufgrund seines jugendlichen Alters. Aber was auf dem Boden einer Internatsschule passiert, gilt nach dem Gesetz als ein Staatsverbrechen. Dieser Feldman, der Direktor, war nicht verheiratet und hatte auch keine Kinder. Aber er hatte eine Schwester, die ebenfalls Lehrerin an Wills Schule war. Sie trat im Prozess als Nebenklägerin auf. Vor Gericht gab sie an, gehört zu haben, wie Will ihrem Bruder damit gedroht haben soll, dass er ihn umbringen werde.«
Kaye schluckte trockene Luft hinunter. Ihr Mund war ausgedörrt, und sie trank von ihrer Cola, die schon nicht mehr kalt war. Will , dachte sie, wie konntest du nur so etwas sagen? Sie zweifelte noch immer nicht daran, dass der Tod des Mannes ein Unfall gewesen war.
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