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Zweiherz

Titel: Zweiherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Aber warum hatte Will solche Dinge gesagt?
    »Will ist nie gewalttätig gewesen, Onkel Thomas«, sagte sie, den Tränen nahe. »Was hat dieser Feldman bloß getan, dass Will so wütend werden konnte?«
    Thomas räusperte sich, als hätte er einen Frosch im Hals. »Kaye, ich glaube, Wills Wut war berechtigt.«
    Er schwieg einen Augenblick mit zusammengepressten Lippen, und sie hob erstaunt den Kopf, um ihren Onkel anzusehen. Dem Ausdruck auf seinem Gesicht nach zu urteilen, fiel es ihm selbst immer noch schwer zu begreifen, was er herausgefunden hatte.
    »In der Nacht, bevor das Unglück passierte, hatte sich Wills Mitschüler, ein Lakota, im Keller des Internats erhängt«, fuhr Thomas mit rauer Stimme fort. »Will und der kleine Sioux waren Freunde gewesen, sein Tod muss ihn schwer getroffen haben. Von den Verantwortlichen interessierte sich niemand dafür, was wirklich passiert war. Warum dieser Junge sich erhängt hatte und warum Will kurz darauf in die Wohnung seines Direktors eingedrungen war und sich voller Wut auf ihn gestürzt hatte.« Der Onkel blieb stehen. »Man fand Will über den blutüberströmten Mann gebeugt.«
    Trotz Hitze fröstelte Kaye auf einmal. Ihr Herz schien ein bleierner kalter Klumpen zu sein. So elend hatte sie sich seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr gefühlt.
    »Will gab alles zu, man verhaftete und verurteilte ihn. Schließlich war da auch noch die verhängnisvolle Aussage der Schwester des Opfers. Und Will hat nie versucht, sich zu rechtfertigen oder zu verteidigen, was für den Richter einem Schuldgeständnis gleichkam.« Thomas öffnete die Hände in einer ratlosen Geste. »Niemand hat sich wirklich um ihn gekümmert oder ein Interesse daran gehabt, die Wahrheit herauszufinden. Aber Anfang diesen Jahres kam alles ans Licht. Die Schwester des verstorbenen Direktors war schwer krank und lag im Sterben. Vermutlich wollte sie ihr Gewissen erleichtern, denn sie schrieb einen Brief an Wills damaligen Verteidiger und berichtete darin, wie es wirklich gewesen war. Feldman hatte sich jahrelang sexuell an seinen Schülern vergangen. Will und der kleine Sioux waren keine Einzelfälle, wie sich herausstellte. Feldmans Opfer waren ausnahmslos kleine Jungen.« Thomas sah Kaye an, in der Hoffnung, sie würde verstehen, was er damit sagen wollte.
    »Du meinst, dass... dass Will...«, stotterte sie, dicke Tränen in den Augen.
    Der Onkel nickte betreten. »Die Schwester schrieb in ihrem Brief, dass Will ihrem Bruder damals zwar gedroht habe, aber nicht damit, ihn umzubringen, sondern ihn in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Das Ganze würde ihr furchtbar leidtun. Die Verbrechen ihres Bruders und ihre eigene Falschaussage. Sie hatte damals Angst um ihren Job gehabt - und davor, was in der Schule passiert wäre, wenn alles herausgekommen wäre.«
    Kaye sprang auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Wieso haben die Jungs den Mann nicht einfach angezeigt?«, rief sie, und wilder Hass stieg in ihr empor. »Er war ihr Lehrer, das ist doch krank...«
    Thomas schüttelte den Kopf. »Du musst versuchen, das zu verstehen, Kaye. Sie waren noch Kinder, als ihnen so Schreckliches widerfuhr. Die Schule hatte einen guten Ruf. Wahrscheinlich fürchteten die Jungs, niemand würde ihnen glauben. Außerdem war es eine Schande. Keines der Indianerkinder wollte, dass seine Familie davon erfuhr. Die meisten Eltern waren sehr froh, dass ihre Kinder auf diese Schule gehen konnten, die kein Geld kostete.«
    Mit einem Anflug von Resignation in der Stimme sagte er: »Übrigens, man hat es auch diesmal wieder geschafft, die Sache weitestgehend zu vertuschen, um den Ruf der Schule nicht zu gefährden. Jedenfalls erschien nichts darüber in der Presse. Selbst wenn Will den Grund für seine Freilassung weiß, wird er mit niemandem darüber reden.«
    »Ach, Mist.« Kaye ließ mutlos die Schultern hängen. So viele Dinge gingen ihr durch den Kopf, Erinnerungen an Will und sein eigenartiges Verhalten, das sie damals nicht zu deuten gewusst hatte. »Jetzt weiß ich auch, was mit ihm los war, als er in seinen ersten Ferien nach Hause kam«, sagte sie. »Dieses Schwein. Dieser verdammte bilagáana -Hurensohn, wie konnte er nur...?«
    »Kaye«, unterbrach Thomas ihre Hasstirade. »Hör auf!«
    Sie stierte ihn an, einen wilden Ausdruck im Blick. »Bis heute hat es mir nie etwas ausgemacht, dass ich zur Hälfte weiß bin, Onkel. Aber jetzt schäme ich mich dafür. Kein Navajo würde so etwas tun.«
    Wer sich an Kindern

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