Zweiherz
markierte die vier Himmelsrichtungen mit Maismehl. Er sang die ganze Nacht über. Hin und wieder forderte er Will auf, Teile des Gesanges zu wiederholen. Es war unerwartet leicht. Die Worte drangen von weit her an seine Ohren, aber als er sie wiederholte, kamen sie tief aus seinem Inneren.
Gegen Morgen fühlte Will sich vollkommen leer und angenehm müde. Müde auf eine Art, die er noch nicht kannte. Es war eine beruhigende, eine sichere Müdigkeit. Will wusste, er würde schlafen können, ohne schlimme Träume zu haben. Und die Zukunft, das war etwas, das sich wieder auf ihn zubewegte. Er würde ihr entgegengehen.
Großvater Sam streute farbigen Sand aus den Figuren der Wissenden Leute auf Will und auf sich selbst, dann trug er den Sand nach draußen, weit genug weg vom Hogan. Das Sandbild musste kurz vor Sonnenaufgang zerstört werden, sonst zog man sich den Groll der Götter zu.
Schließlich musste Will sich mit einem milchigen Seifensud aus Yuccawurzel waschen. Die Lauge brannte auf der Haut, aber danach fühlte er sich frisch und porentief gereinigt. Die Zeremonie war vorüber. Blaue Nachtwolken verschwanden am Horizont und es zeigte sich ein erster heller Streifen. Bald darauf ging die Sonne auf.
Im Tau des Morgens duftete es frisch nach Salbei. Will fühlte sich so rein und voller innerer Klarheit wie schon lange nicht mehr.
» Ahééh , Granpa, ich danke dir. Du hast mir sehr geholfen.«
Der alte Mann nickte erschöpft. »Wird Zeit, nach meinen Schafen zu sehen«, sagte er.
19. Kapitel
M it einem Holz drückte Kaye das Wollbündel in den Bottich mit der blauen Farbe, die sie aus der Asche des Fettholzbusches gewonnen hatte. Dann kochte sie Sonnenblumensamen mit ihrer Schale, um eine tiefrote Farbe zu bekommen. Und indem sie etwas schwefelsaure Tonerde zu den kochenden Blüten der Hasenbürste gab, erhielt sie einen tiefgelben Farbsud.
Es würde unterschiedlich lange dauern, bis die gesponnene Wolle die gewünschten Farbtöne angenommen hatte, mindestens jedoch einen Tag und eine Nacht. Die Wolle von den Schafen ihres Vaters ließ sich hervorragend färben, deshalb war sie im Reservat auch so begehrt.
Arthur Kingley züchtete eine seltene Sorte Schafe, Abkömmlinge der von den Spaniern ins Land gebrachten Churro-Schafe. Sie waren genügsamer und widerstandsfähiger als ihre dickwolligen Artgenossen, denn sie ertrugen sowohl die trockenen und heißen Sommer als auch die tiefen Temperaturen im Winter. Ihre Wolle war lang und grobfaserig und ließ sich hervorragend verspinnen. Doch der größte Vorzug dieser Wolle war, dass sie nur wenig Lanolin hatte und die Farbe deshalb besser annahm als die Wolle von anderen Schafen.
Damals, als Colonel Kit Carson sämtliche Schafherden der Navajos vernichten ließ, hatte er die Churro-Schafe beinahe ausgerottet. Aber einige der Tiere überlebten in den fruchtbaren Canyons. Sie wurden wild und vermehrten sich wieder. Aus Nachkommen dieser Tiere hatte Arthur Kingley seine Herde gezüchtet und war damit sehr erfolgreich.
Kaye war ganz versunken in das, was sie tat. Sie dachte daran zurück, wie sie früher gemeinsam mit ihrer Mutter Pflanzen gesammelt und Farben gekocht hatte. Damals war ihr das alles wie Zauberei vorgekommen. Die Entstehung der Farben im Kochtopf und später die der Muster im Teppich.
Ihre Mutter hatte begonnen, ihr das Weben beizubringen, als Kaye acht Jahre alt war. Sophie hatte ihr ans Herz gelegt, den fertigen Teppich nicht als Eigentum zu betrachten, sondern als Geschenk für etwas sehr Wertvolles oder für Nichts. Denn auch die Kunst des Webens war ein Geschenk der Wissenden Leute an die Navajos.
Sophie hatte ihr beigebracht, am unteren Rand des Teppichs einen andersfarbigen Faden als Geistweg einzuweben. Diese Unregelmäßigkeit war ein Ausweg für die Geister, sie blieben nicht im Teppich gefangen.
Als das Telefon klingelte, rannte Kaye mit verfärbten Händen ins Haus. Ihr Vater war am Apparat. Seine Stimme klang jung. Er war überschwänglich und überraschend gut gelaunt. Als ob er einen Joint geraucht hätte, dachte sie. Vielleicht war ihm ja ein alter Schulkamerad über den Weg gelaufen und sie hatten ihre stürmische Jugend wieder aufleben lassen.
»Grüß Großvater von mir«, sagte Kaye.
»Das werde ich. Geht es dir gut, Kleines?«
Kaye verdrehte die Augen, wie immer wenn er Kleines zu ihr sagte. »Ja, Dad, es geht mir gut. Ich habe Ashkii an Will verkauft und er arbeitet dafür jetzt auf der Ranch.« Sie hatte beschlossen,
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