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Zweiherz

Titel: Zweiherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Ritzzeichnungen wegen, und noch mehr wegen Aquilar«, vermutete Thomas. »Aquilar ist Wills sik’is , sein einziger Freund.«
    »Er war es nicht«, sagte Kaye beharrlich.
    »Was macht dich so sicher?«
    Sie sah ihn an, mit ihren durchdringenden blauen Augen. »Das fragst du noch?«
    »Also gut.« Er richtete sich auf. »Von der Elfenbeinfigur weiß noch niemand etwas und ich werde meinen Verdacht vorerst für mich behalten. Damit riskiere ich meinen Job, ich hoffe, das ist dir bewusst. Finde Will und bring ihn zu mir. Ich habe Dienst und bin entweder im Büro oder zu Hause erreichbar. Wenn du ihn wirklich liebst, dann bringst du ihn zu mir. Ich werde die Wahrheit herausfinden. Und auch wenn du mich jetzt vielleicht hasst, Kaye: Du weißt, dass du mir vertrauen kannst.«
    Sie nickte stumm und Thomas verließ das Zimmer.
    Kayes Gedanken überschlugen sich. Die Zeremonie kam ihr in den Sinn. Wenn ein diné jemanden getötet hatte, konnte er sich einer Reinigungszeremonie unterziehen, und damit war die Welt wieder in Ordnung. Jedenfalls für einen traditionell denkenden Navajo. Der Tod war mit seinem Eintreten zu einer Sache geworden, die einen nicht mehr berührte.
    Will hatte sich oben auf der Mesa einer Zeremonie unterzogen. Warum? Weil er missbraucht worden war oder weil er Ted Northridge erschossen hatte? War Mikes Vater der Mann, der über Aquilar Yazzies Beine gefahren war? Ein überwältigendes Gefühl der Verlorenheit machte sich in Kaye breit. Ihr Herz hämmerte vor Angst und ihr Verstand schien völlig blockiert.
    Nachdem ihr Onkel gefahren war, ließ Kaye ihren Blick über die abgegriffenen Fotos an der Wand über Wills Bett gleiten. Will zusammen mit seinem Vater: lachend. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie ähnlich sie einander sahen. Sie hatte John Roanhorse nur dunkel in Erinnerung. Ein paar Mal war sie ihm mit ihrer Mutter begegnet, aber da hatte sie immer nur Augen für Will gehabt.
    Ein anderes Foto zeigte Will mit einem indianischen Jungen, den sie nicht kannte. Grinsend. Dann eins mit ihr als Zehnjährige. Will mit Kaye. Will mit Kaye. Lachend. Lachend. Lachend.
    Sie wischte ein paar Tränen fort.
    In einem Karton lagen alte und neue Zeitungsausschnitte. Auch darin hatte ihr Onkel herumgesucht. Kaye nahm einige der Ausschnitte heraus und begann zu lesen. Es waren Artikel über den tödlichen Vorfall in Wills Internatsschule. Ein Foto von Will als Vierzehnjährigem, wie er in Handschellen abgeführt wurde. Wie einsam er aussah. Die großen Augen so voller Angst vor dem Ungewissen.
    Und schließlich fand sie Artikel über sexuellen Missbrauch an Schutzbefohlenen in anderen Bundesstaaten. Gerichtsurteile, Gutachten, Aussagen Betroffener.
    Kaye setzte sich auf das Bett und las, bis die Schrift vor ihren Augen verschwamm. Warum hatte sie nie hinterfragt, was eigentlich mit ihm los gewesen war, als er sie damals allein im Canyon sitzen ließ? Warum hatte sie sich nicht um ihn gekümmert, als sie erwachsen genug dazu war? Sie hätte ihn im Gefängnis besuchen können. Sie hätte ihm helfen können.
    Aber es war ja einfacher gewesen, jemanden zu lieben, von dem man ein ganz bestimmtes Bild hatte. Es war so viel einfacher, mit einer Erinnerung zu leben. Sie musste sich eingestehen, dass sie Angst gehabt hatte. Angst, dass aus Will ein anderer geworden war. Und er war ein anderer geworden.
    Kaye ging zurück in die Küche, wo Großvater Sam immer noch unbeweglich saß und auf seinen leeren Teller starrte. Sie wärmte das Essen im Ofen auf und füllte seinen Teller. Ihr selbst war der Appetit vergangen.
    »Wo ist Will?«, fragte sie den alten Mann.
    Sam schüttelte nur den Kopf.
    »Die Schafe sind nicht da. Ist er mit ihnen unterwegs?«
    Schweigen.
    »Ich weiß, dass ihr gestern oben im Hogan wart, Großvater. Hast du eine Heilungszeremonie für Will abgehalten oder war es eine Reinigungszeremonie?«
    Sam Roanhorse blickte auf, starrte Kaye aus seinen getrübten Pupillen an, als wäre sie ein Geist. »Warum ist das für dich so wichtig?«, fragte er.
    Kaye seufzte. »Du musst es mir sagen. Bitte, Großvater.«
    »Du hast dich verändert, Tochter.«
    »Großvater, wo war Will Freitagnacht?«
    Der Alte schob seinen Teller mit dem unberührten Essen langsam von sich. Das war eine Geste, die sagte, dass es nun genug war mit ihren Fragen.
    Kaye nahm die Hand des Alten: »Ich weiß, dass Will Ted Northridge nicht getötet hat, Großvater, und du weißt es auch. Aber der Polizei müssen wir es beweisen. Bitte sag mir:

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