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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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gewesen, ganz ohne ihre üblichen Streitereien, und nun hätte er alles dafür gegeben, noch einmal pappigen Reis zu essen und den Geruch nach süßsaurer Soße in der Nase zu haben. Er hätte sich sogar mit Begeisterung eine der Schnulzen angeschaut, die Charlie so liebte.
    Er holte den länglichen Stein hervor, der sein Handy gewesen war. So viele Nachrichten und Telefonate, die er versäumt hatte. Und die er nie wieder führen würde. Tränen wurden zu kalten Spuren auf seinen Wangen. Die Luft war schneidend kalt und brachte ihn zum Husten, bis er nicht wusste, ob er hustete oder schluchzte. Obwohl die Kojoten unwillig knurrten, schob er sie von sich, schlang die Arme und die Knie und krümmte sich zusammen.
    »Hey, heulst du etwa, du Memme?«
    »Nein«, gab Jay grob zurück.
    Und dann weinte er zum ersten Mal – um Charlie und Robin und seine versunkene Welt.
    Madman kicherte. »Ist doch nur ein neues Jahr. Und schlimmer kann’s ja nicht werden.«
    Womit er ausnahmsweise einmal recht hatte.
    »Mann, dieses Fahrstuhlgedudel da draußen nervt«, fuhr Madman fort. »Scheißband!«
    Jay räusperte sich und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Wer spielt?«
    »Keine Ahnung. Aber ich hasse diesen Schmalz. Den ganzen Scheiß machen sie ohnehin nur für die Touristen. Aber wir können ja ruhig in der Kälte verrecken.«
    Er brummelte und schimpfte noch eine Weile vor sich hin, dann fing er an, das Lied, das nur er hörte, mitzusummen. Es klang schräg, aber Jay erkannte es dennoch. Ein Liebeslied, gesungen von Dean Martin. Es handelte vom Mond und von der Liebe, von Träumen und Sternen. Es war der Titelsong eines Films, den Charlie sich oft angesehen hatte. Mondsüchtig. Mit Cher und Nicholas Cage. Madman hatte recht, das Lied war schmalzig, aber seine Mutter liebte es. Hat es geliebt .
    »When the Moon hits your Eyes …«, sang Madman mit krächzender Stimme mit. Mit etwas Mühe konnte man sogar den Walzertakt heraushören. Doch draußen pfiff nur der Wind und irgendwo in der Ferne verhallte der schaurige Ruf der Brooklyn Bridge. Und plötzlich hielt es Jay nicht mehr aus. Nicht in dieser dunklen Narrenkammer und nicht in der Nähe des Verrückten. Die Grenzen zwischen ihnen begannen entschieden zu sehr zu verschwimmen.
    »He, wo willst du hin? Lass dich nicht von der Polizei schnappen, die sammeln heute Ungeziefer wie uns von den Straßen … Mann! Bleib hier!«
    Aber Jay schüttelte den Kopf und stürzte hinaus – und stand in einer sternenklaren, kristallblauen Nachtwelt. Über ihm ein Himmel wie aus Kobaltglas, kein Licht von der Erde milderte die Dunkelheit. Wie Halloween-Gespenster erhoben sie die Gerippe der Hochhäuser um ihn herum. Sterne leuchteten dort, wo früher Fassaden gespiegelt hatten, aber wenn er sich Mühe gab, konnte er sich tatsächlich einbilden, dass die Sterne Lichter in den Fenstern waren.
    Und kaum fünf Meter von ihm entfernt stand Madison, die Hände in den Taschen ihrer blauen Kapuzenjacke vergraben.
    »Hi Jay«, sagte sie leise. Es klang weder freundlich noch unfreundlich, ihre Stimme war so neutral wie der Wind. So viele Stunden hatte er sich ihr Wiedersehen ausgemalt, aber jetzt konnte er sie nur anstarren. Sein Herz raste, und er wusste nicht, ob er Angst hatte – oder ob es Freude war.
    Er schluckte. »Ich würde dich gern Madison nennen, aber du bist es nicht.«
    »Ich war es nie.«
    Sie musterte ihn lange, ohne einen einzigen Lidschlag. Und Jay war, als wirbelten Träume um sie herum wie spielende Hunde. Gemeinsame Momente, die ihnen beiden zu gleichen Teilen gehörten.
    »Es ist schon komisch mit dir. Wenn ich dich rufe, läufst du weg von mir«, sagte sie verärgert. »Und wenn ich dich nicht sehen will, dann bist du hier. Warum gehorchst du meinem Bann nicht?«
    »Ein Bann funktioniert nur mit dem richtigen Namen. «
    Ihre Augen wurden groß. »Jay Callahan?«
    Er schüttelte den Kopf. »Du kannst den Namen nicht wissen. Ich wollte ihn vergessen. Ich habe ihn so gründlich ausgelöscht, dass ich nicht einmal von ihm geträumt habe. Nur Madison hat ihn auf einem Formular gelesen.«
    »Oh«, sagte sie und wirkte so verdutzt, dass es ihn zum Lächeln brachte. »Das muss ein Teil deines Traums gewesen sein, den ich nicht genug beachtet habe.«
    Ganz genau , dachte er. Details . Irgendwie war es beruhigend, dass auch magische Wesen Fehler machten. Ein wenig nahm es ihm das Unbehagen.
    »Aber die blonde Fallenstellerin weiß, wie du heißt!«, rief das Mondmädchen.

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