Zweilicht
bereits von ihm abgewandt. Einen Moment war er versucht, ihre Hand zu nehmen, um sie zurückzuhalten. »Hast du kein Mitleid mit den Menschen, die ihm zum Opfer fallen?«, rief er. »Wenigstens das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Entweder sie oder wir«, erwiderte sie mit einer Kälte, die er an ihr nicht kannte. »Und nein – Mitleid ist etwas Menschliches.«
»Liebe auch«, hielt er dagegen. »Und Rachsucht. Und Hass. In all diesen Dingen bist du ebenso menschlich wie wir!«
Er fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Sein Herz schlug bis zum Hals, als er sah, wie sich ihre Miene verschloss. Sie schluckte schwer und blickte nachdenklich nach Norden. Noch nie war ihm so klar geworden, dass sie kein menschliches Wesen war und dass er vielleicht einen Fehler machte, wenn er darauf hoffte, sie würde genauso empfinden wie er. Ivy hat recht . Ich weiß nichts über meine neue Welt, und ich spiele mit Kräften herum, die uns alle vernichten können. Eine Weile standen er und das Mondmädchen sich nur schweigend gegenüber, und auch sie schien mit Zweifeln und Gedanken zu ringen. Fieberhaft suchte er nach Worten, nach Argumenten, aber dann sah er ein, dass er alles gesagt hatte. Und bizarrerweise fiel ihm wieder einer von Robins Postkartensprüchen ein – einer, der für Robins Verhältnisse noch der verständlichste gewesen war: »Wir glauben gern, dass etwas geschieht, während wir reden. Die Wahrheit ist, dass alles Wichtige geschieht, während wir schweigen.« Und etwas geschah. Er konnte es in ihrer Miene lesen. Zorn und Aufbegehren in ihren zusammengepressten Lippen, Ratlosigkeit in ihrem ruhelosen Blick, Schatten von Zweifel und Furcht auf ihrer Stirn.
»Es ist komisch«, sagte sie. »Heute Nacht habe ich mir noch gewünscht, dich sterben zu sehen, aber jetzt …« Sie lächelte. »Ich kann es nicht fassen, dass ich nie wirkliche Macht über dich hatte. Warum bist du nicht sofort geflohen? Warum hast du mich geküsst?«
»Du hast mich verzaubert – auf eine andere Art. Eine, die nichts mit Herrschaft und Zwang zu tun hat.«
»Ist das Menschenmagie?«
»Wir nennen es Verliebtheit. Zuneigung. Freundschaft.«
»Und Sehnsucht?« Das Mondmädchen verschränkte die Arme und betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf. Ihre Augen wurden dunkler, honigfarben und warm. Plötzlich hob sie das Kinn und richtete sich auf. Sie schien zu wachsen und ihre Augen funkelten vor Entschlossenheit.
»Weißt du was, Jay?«, sagte sie. »Ich habe auch ein ungehorsames Herz! Und ja, eine kleine Wahl habe ich doch!«
Sie lachte leise, als wäre sie über sich selbst verwundert, dann legte sie den Kopf schief und lächelte wie eine Verschwörerin.
Unter seiner Jacke piepste es. In einer Bewegung, die einer ganz anderen Zeit gehörte, griff er nach seinem Handy. Es ist nur ein Stein, Jay, sei kein Idiot. Doch dann lag es in seiner Hand, das Display leuchtete in künstlichem Hellgrün. Zehn verpasste Anrufe und eine SMS . Von Charlie. Seine Hand zitterte, als er die neueste Nachricht aufrief.
Frohes neues Jahr, Jay! Es tut mir so leid. Ich liebe dich. C.
Als er wieder aufblickte, war er mitten im Neujahrsfest. Tausende von New Yorkern hatten sich am Times Square versammelt. An der Fahnenstange schwebte bereits der New Year’s Eve Ball – eine mit spiegelnden Kristallen besetzte Kugel, die beim Silvester-Countdown gleich heruntergelassen würde. Werbetafeln an den Hochhausfassaden blinkten so grell, dass Jay unwillkürlich die Augen zusammenkniff. Handys klingelten, Luftballons wurden herumgestoßen und die Leute johlten. Auf einem Display an einem Wolkenkratzer lief die Zeitanzeige rückwärts und raste dem neuen Jahr entgegen. 2013.
Es ist nicht real! Aber je mehr Jay an diesem Gedanken festhielt, desto deutlicher sah er die Gesichter, das Lachen, grellen Lippenstift, Glitter, Luftballons. Er konnte nichts dagegen tun, dass ein warmes Kribbeln von Glück ihn berührte. Dass er ebenfalls zu lächeln begann und die Gesichter betrachtete wie lang vermisste Freunde. Irgendwo in der Menge entdeckte er tatsächlich bekannte Gesichter. Erst einen, dann weitere. Schauspieler! Daniel Craig, Sienna Miller und Harrison Ford. Sie prosteten sich mit Sektgläsern zu, und allein das hätte ihm gezeigt, dass es nicht real war. Niemand in New York durfte auf der Straße Alkohol trinken. Und doch war es perfekt.
Und dort, in der Menge, stand Zweiherz, sein Vater. So, wie er ihn liebte: jung, mit langem Haar und dem Federschmuck, der
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