Zweilicht
bei jedem Sprung tanzte.
Dean Martins warmer Bariton hallte über den Platz. Der Madman sang mit. »When you dance down the street, with a cloud at your feet, you’re in love …«
»Ich lerne immer noch«, sagte das Mondmädchen. »Ich kann dich vor Wendigo verstecken. Wir könnten deine Welt herbeirufen, Jay, du und ich. Sie wird nur dir gehören und realer sein als alles, was Menschen je erschaffen könnten. Es wird unsere Wirklichkeit sein, Jay. Deine und meine.«
Ihre Worte umstrickten ihn, doch er schüttelte den Kopf. »Nein. Das kann ich nicht.«
»Du warst doch in mich verliebt?«
»Ja.«
»Dann küss mich. So wie damals, nach dem Kino, weißt du noch? Küss mich und alles wird gut!«
»Five, four, three …«, zählte eine Stimme über Lautsprecher den Countdown.
Die Kugel glitt an der Stange herunter, Symbol für das Verstreichen der Zeit. Die Lichtreflexe der Kristalle flirrten über das Gesicht des Mondmädchens, ließen es unwiderstehlich aussehen, hübsch und auf eine sehr alte Weise klug.
Das Feuerwerk startete und aus den Fenstern der Hochhäuser rieselten Kaskaden von Konfetti.
»Bekomme ich keinen Kuss zum neuen Jahr?«, fragte sie mit einem Lächeln. Warmer Atemnebel streifte seine Lippen und machte ihm klar, wie stark ihre Magie wirklich war. So stark, dass er sich unendlich nach diesem Kuss sehnte. Warum nicht? Was habe ich zu verlieren?
Aber warum zögerte er dann immer noch?
»Es geht immer um das Abschiednehmen, Jay«, rief sein Vater ihm zu . »Wir müssen lernen, die Abschiede zu umarmen.«
Wieder ein Text von einer Postkarte.
Du bist nur eine Erinnerung, Robin Zweiherz, dachte er unwillig. Du bist nicht einmal ein Geist, sondern existierst nur in meinem Kopf.
»Stimmt«, antwortete sein verrückter, tanzender, singender Vater. »Aber auch Erinnerungen haben ihre Wahrheit. Warum sollte ich lügen? Die Vergangenheit ist tot und im Gegensatz zu dir habe ich wirklich nichts mehr zu verlieren. Aber in jedem Fall sollte man wissen, wen man liebt – und aus welchen Gründen, meinst du nicht? Sieh dich um, na los!«
Jay blinzelte und stolperte einen Schritt zurück. Lachen und Klatschen brandete um ihn herum, lückenlose Realität, gestochen scharf und perfekter, als es die wirkliche Welt je hätte sein können, das New York aus Filmen und Serien und Hochglanz-Reiseführern.
»Und dann frag dich mal: Warum ausgerechnet Silvester, Jay?« , rief Zweiherz.
Weil es für einen neuen Beginn steht , antwortete Jay sich selbst in Gedanken. Ein neues Leben, mein Leben. Den Moment, in dem sich alles entscheidet.
»Ich bin die Einzige, die deine Welt wirklich kennt«, sagte das Mondmädchen. »Alles, was du bist, verstehe ich. Besser als die Menschen dieser Zeit.«
Das Schlimme war, dass das stimmte. Ist es das? Ist das die wahre Magie, die mich an das Mondmädchen bindet? Meine eigene Sehnsucht? Bin ich deswegen hierher zurückgekommen?
»Entscheide dich«, drängte ihn das Mondmädchen. »Noch kann ich dich verstecken. Vor Wendigo – und auch vor den anderen. Noch ist meine Magie stark genug für uns beide. Aber dafür musst du mir folgen! Du musst mir gehören! Ganz und gar. Jay, hörst du mich?«
Vielleicht war die wachsende Verzweiflung in ihrer Stimme der Ton, der alles aus dem Takt brachte.
»When you walk in a dream, but you know you’re not dreaming …«, sang Dean Martin im Walzertakt.
Wie in einer Doppelbelichtung erahnte Jay in den Lichtern des Silvesterfestes den kalten blauen Schein der Trugwelt. Der Applaus und Jubel der Leute vermischte sich mehr und mehr mit dem Heulen des Windes. Die Konfetti, die aus den Fenstern der Hochhäuser rieselten, verwandelten sich in den ersten Schnee.
Jay sah das Mondmädchen vor sich, kühl wie eine Mondnacht, und Ivy, das Sonnenmädchen. Blauer Schein und Goldlicht, Vergangenheit und Gegenwart, beide durchglühten ihn, bekämpften einander und brannten ihn aus, bis nur noch die Erkenntnis blieb, dass er jetzt erst wirklich aufgehört hatte, in einem Traum zu leben. Weiche Flocken trafen wie eisige Küsse seine Stirn und seine Lippen. Sie erinnerten ihn an Ivys Küsse. Und auch wenn es für sie hundertmal nur ein Trickster-Kuss gewesen war, für ihn, so erkannte er, bedeutete er mehr, viel mehr. Wann wusste man, dass man jemanden liebte? Vielleicht dann, wenn es sogar gleichgültig ist, ob diese Liebe erwidert wird.
Es war wie ein endgültiges Aufwachen.
»Ich gehöre einer anderen, Mondmädchen«, flüsterte er. »Ihr und den
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