Zweilicht
Es war ein Abglanz von Ivys hasserfülltem Ton, wenn sie von den Wächtern sprach.
Langsam schüttelte er den Kopf. »Mein Name gehört nur mir. Und was ich tue, das entscheide ich selbst.«
»Dann hat sie dich gar nicht in ihren Bann gezogen? Du bist ihr freiwillig gefolgt? Liebst du sie?« Jetzt schwang Kränkung in ihrem Tonfall mit. Er spürte, dass er dabei war, auf gefährliches Terrain zu schlittern.
»Selbst wenn es so wäre, spielt es keine Rolle«, erwiderte er vorsichtig. »Sie liebt einen anderen.«
Er nahm es ihr nicht einmal übel, dass sie lachte. »Und jetzt, wo sie dich nicht will, kommst du zu mir zurück?«, spottete sie. »Soll ich mich jetzt freuen und ihr danken, dass sie mir ihren abgenagten Knochen wieder zuwirft?«
Er ignorierte die Beleidigung und schüttelte ernst den Kopf. »Deshalb bin ich nicht hier. Ich weiß, was die Kolonie dir angetan hat. Jennas Tod – und auch Matt.«
Sie zuckte zusammen, ihre Überheblichkeit fiel von ihr ab wie eine Maske, und sie war nur noch ein einsames Mädchen, das viel verloren hatte. Für einen Moment wäre er gerne einfach nur zu ihr gegangen und hätte sie getröstet, aber er vergaß nicht, was sie wirklich war.
»Und auch auf unserer Seite ist Schreckliches passiert«, fuhr er leise fort.
»Eure Seite?«, fragte sie spitz. »Was willst du von mir, Jay?«
Er leckte sich nervös über die Lippen. In der Tiefgarage sang Madman immer noch vor sich hin, eine gespenstische, einsame Mottenstimme.
»Dich daran erinnern, dass wir keine Feinde sind. Du hast mich aufgeweckt und mich beschützt. Wir haben gemeinsam gelacht, wir haben uns gegenseitig verzaubert. Und mir ist es egal, was die Menschen über dich sagen – ich glaube, du willst nicht, dass Wendigo mich tötet.«
Bei der Erwähnung des Namens zuckte sie zusammen und blickte sich um, als würde sie fürchten, belauscht zu werden. Zögernd kam sie näher.
»Keine Feinde?«, fragte er leise.
Er erschrak, als die Veränderung einsetzte. Was wird sie sein? Ein Ungeheuer wie Matt? Aber er zwang sich, nicht zurückzuweichen, als sie eine Armlänge entfernt vor ihm stehen blieb.
Madisons schwarzes Haar verblasste, wurde heller und heller, bekam sogar im fahlen Sternenlicht einen Bernsteinglanz. Ihre Haut wurde milchweiß und durchscheinend. Ein zierliches Mädchen mit schimmernder Haut und spitzem Kinn stand vor ihm. Ihre Augen waren größer als die von Madison, größer als die Augen von Menschen überhaupt, außerdem tiefer und von einem betörenden Goldbraun. An irgendetwas erinnerte sie ihn, aber er konnte nicht sagen, woran.
Sie lächelte. Und für einen Moment war alles zwischen ihnen wieder da. Er hatte mit dem Mondmädchen auf dem Dach von Matts Haus gestanden und war mit ihr im Kino gewesen. Es waren ihre Gespräche gewesen, ihr Staunen über den Mond am Tageshimmel, ihr Abend im Kino. Und Madisons Gespenst, denn sie ist seit Jahrzehnten tot.
»Wahnsinn!«, rief Madman. »Schau dir das an!«
Aus dem Augenwinkel konnte Jay erahnen, dass das Gespenst um eine Tonne herumtanzte, in der ein Feuer brannte. Hellblaue Funken stoben in den Himmel. Und auch Liberty hatte sich wieder eingefunden.
Aber Jay wandte den Blick nicht von den goldenen Augen des Mädchens ab. Als wären es Spiegel, in denen ich meine Träume sehen kann.
»Bist du wirklich Wendigos Dienerin?«
Das Mädchen schluckte und senkte den Kopf. »Ja und nein. Ich habe keine Wahl.«
»Wir haben immer eine Wahl.«
»Ihr Menschen vielleicht.« Es klang bedrückt. »Bei uns gibt es nur Jäger und Beute. Wir sind Wendigos Jäger. Und ihr …«
Jay schüttelte heftig den Kopf. »Wir zwei waren weder das eine noch das andere. Hast du alles schon vergessen?«
Ein wehmütiges Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel, aber sie antwortete nicht.
»Wir haben eine Wahl«, beharrte er noch einmal. »Ich bin hier, obwohl ich vor euch geflohen bin. Und wir sprechen miteinander, obwohl wir Feinde sein müssen. Stell dir vor, was sein würde, wenn wir uns gegen Wendigo verbünden würden. Wenn wir die anderen Schläfer in der Stadt finden könnten – wenn es keine Fallen mehr gäbe und kein Morden. Es könnte unsere Stadt sein, Mondmädchen.«
Jetzt lächelte sie ihm zaghaft zu. »Du hast auch ein ungehorsames Herz«, sagte sie nachdenklich. »Das hat mir schon immer an dir gefallen. Und es gefällt mir immer noch. Aber ich werde die Menschen nie lieben, Jay. Niemals.«
Sie entglitt ihm wieder, er konnte es spüren, als hätte sie sich
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