Zweilicht
Blickes zu würdigen, machte sie sich in Richtung Mannahatta davon. Das Mondmädchen aber stand immer noch wenige Meter von ihr entfernt und musterte Ivy aus kalten goldenen Augen.
*
Die Kälte brannte in seiner Lunge und dennoch hatte er das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen. Diese Stille, die ihn umgab, war so dicht, dass sie in seinen Ohren zu knacken schien, sogar der Fluss rauschte nicht mehr von fern und jedes Tier hatte sich in seinen Unterschlupf verkrochen. Nichts raschelte, nicht einmal eine Katze entdeckte er in den Ruinen. Das einzige Geräusch war das Schleifen seiner Schritte, während er durch den knietiefen Schnee pflügte und den Spuren folgte.
Wenige Schritte nachdem er endlich die letzten Gebäude vor dem Fluss erreicht hatte, stand er bis zur Hüfte in Nebelschwaden. Und aus diesem geisterhaften Meer erhob sich die Brücke.
Das Mondmädchen entdeckte er sofort, ihr Haar schimmerte wie ein rötlicher Mond. Verräterin . Und dich habe ich auch noch aus der Falle gezogen! Ivy konnte er nicht sehen, aber er wusste, sie war auch dort – auf der Fußgängerpromenade der Brücke, direkt vor dem ersten Doppeltor.
*
Ivy konnte die Feindseligkeit des Mondmädchens wie glutheiße Fingerspitzen auf ihrer ganzen Haut spüren. Lock sie näher heran! Beleidige sie, vielleicht will sie dir dann an die Gurgel gehen und kommt nah genug heran.
»Du bist ein hässliches Monster«, rief sie verächtlich. »Du brauchst wirklich jeden Bann, den du kriegen kannst.«
Ein jäher Windstoß wirbelte das Haar des Mondmädchens hoch. Ivy drängte sich instinktiv näher gegen das Seil, als das Mädchen auf sie zuglitt, mit geschmeidigen Schritten, die sie punktgenau einen vor den anderen setzte. Die hellen Strähnen umtanzten ihr Gesicht wie das Schlangenhaupt einer Göttin aus einer alten Sage. Ihre Augen glühten auf wie die einer Katze. Vor Ivy ließ sie sich nieder, aber nicht wie ein Mensch, der in die Hocke ging oder sich hinkniete. Sie kauerte, auf Hand- und Fußballen gestützt. Das bernsteinfarbene Haar wirbelte, streifte Ivys Schläfe und ihren Hals und ließ sie schaudern.
»Wer ist hier das Monster?«, sagte das Mondmädchen gefährlich leise. »Ihr habt meine Schwester getötet. Ihr habt Cinnas Herz mit Eisen vergiftet.«
»Dann weißt du ja wenigstens, wie das ist, jemanden zu verlieren«, schleuderte Ivy ihr entgegen. »Fühlt sich nicht gut an, Mondmädchen, was? Weißt du, wer der Mann war, dessen Traumworte du vorhin nachgeäfft hast? Cael! Er war mein Bruder. Und Yamal starb mit ihm.«
»Wie schade«, erwiderte das Mädchen kühl. »Der Blonde hätte mir gefallen können.«
»Wo bleibst du?«, rief die dunkle Frau besorgt. Das Mädchen hörte nicht hin. Sie kam noch näher an Ivy heran. »Scheint so, als hätte der Schlag auf den Kopf meinen Bann geschwächt. Aber das lässt sich ja ändern.«
*
Jay hätte nie gedacht, dass er das Mondmädchen wirklich einmal hassen könnte. Aber als er endlich auf der Brücke war und Ivy in der Ferne entdeckte, war er fast erschrocken, wie heiß und verzehrend der Hass auf sie in ihm hochkochte. Ivy war an ein Stahlseil gefesselt. Wie ein Menschenopfer, das einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden soll. Noch schlimmer war es, das Mondmädchen zu sehen. Sie kauerte vor Ivy und die Luft vibrierte vor Triumph. Noch nie hatte er das Mondmädchen mit solchen Augen betrachtet. Es war Ivys und Fayes Blick – und das, was Columbus sah, wenn er von den Wächtern sprach. Jay hatte im Moment nur ein Wort dafür. Bestie . Er packte seinen Speer fester und rannte los. Zu spät sah er Linda. Lautlos schnellte sie von der Seite auf ihn zu. Offenbar hatte sie auf dem Geländer gekauert, jetzt flog sie auf ihn zu und riss ihn um. Polternd kamen sie auf brechenden Brettern auf. Ein unglaubliches Gewicht drückte ihn zu Boden und presste alle Luft aus seinen Lungen, seine Faust traf auf viel zu feste Muskeln. Zähne blitzten vor ihm auf – lange Fänge, die keinem Wolf gehörten und keinem Bären. Dann sah er wieder Lindas verzerrtes Gesicht und wurde gegen das verrostete Geländer geschleudert.
*
»Sóley«, sagte das Mondmädchen unerträglich sanft. Der Name zerrte an Ivy, wollte sie unter den Willen des Mädchens zwingen. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, wie es sein musste, wenn ein Bann mit dem echten Namen und ganzer Kraft ausgesprochen wurde. Es kostete sie alle Beherrschung, sich zu entspannen und so zu tun, als würde der Bann wirken. Langsam ließ
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