Zweilicht
vor den Mund, um nicht zu schreien. Yamal!
Das, was sie am meisten erschütterte, waren nicht die Verwüstung und das Leid in ihren Gesichtern. Sondern die Erkenntnis, wie viel sie schon in diesem kurzen Jahr vergessen hatte, sich gezwungen hatte zu vergessen, aus Angst, ein Wächter könnte ihr auf die Spur kommen. Wie lange hatte sie nicht mehr an Yamals Narbe gedacht? Er hatte sie sich bei einer Mutprobe zugezogen, als sie alle noch Kinder waren – Ivy, er und Beren. Jetzt sah sie diesen Sommertag wieder vor sich, der Duft von wilden Beeren fing sich in ihrer Nase und Yamals Lächeln ließ ihr Herz aufblühen. Wie kostbar waren diese Erinnerungen!
Sei vernünftig , schalt sie sich. Denk logisch!
Die kalte Wand drückte rau zwischen ihre Schulterblätter, ihr Blut pochte heiß in ihren Schläfen und Wangen. Sind es die Wächter? Truggestalten?
Sie zwang sich, die beiden Toten zu betrachten, nach jedem Detail zu suchen, aber alles war genau so, wie sie es in den schlimmen Nächten vor sich sah. Fieberhaft ging sie in Gedanken die letzten Wochen durch, aber nein, sie hatte die Träume immer gut verborgen. Kein Wächter konnte sie kennen. Sie schloss die Augen, rang nach Luft und versuchte sich zu beruhigen. Als sie sie wieder öffnete, hätte sie beinahe aufgeschrien. Sie standen jetzt direkt vor ihr, zwischen ihr und den leeren Augenhöhlen war nur noch die Bannlinie, die unter Schnee versteckt lag. Ihr seid nicht real, wiederholte sie wie eine Beschwörung. Ihr seid nur Gespenster, die ich selbst hervorbringe. Jedes Leid erschafft neue von ihnen . Es ist wegen Jay. Ich fühle mich schuldig, weil ich ihn geküsst habe, als hätte es Yamal nie gegeben. Sie fühlte wieder Jays Hände auf ihrer Haut, seine Lippen auf ihrem Mund. Und vor ihr stand plötzlich nicht mehr der Tote, sondern ihr Yamal, den sie ihre ganze Kindheit hindurch geliebt und erst im vergangenen Sommer geküsst hatte – zum ersten und zum letzten Mal. Sie hatte nie um ihn geweint, aber jetzt stiegen ihr Tränen in die Augen, und für einen Augenblick sah sie auch wieder ihren Bruder, so, wie er wirklich gewesen war, mit seinen braunen Augen, den hellblonden Haaren und dem Lachen, das ihrem so ähnlich war.
Suchend glitt Yamals leerer Blick über sie hinweg, er und Caels Gespenst wandten sich ab.
Ivys Knie gaben nach, sie rutschte an der Wand entlang, bis sie auf dem Boden kauerte und nichts mehr dagegen tun konnte, dass die Erinnerung sich knisternd entfaltete wie eine Eisblüte.
Unser erster und letzter Kuss. Du hattest mich dazu überredet, noch einmal im Kanu mit dir den Fluss zu überqueren. Wir fühlten uns so sicher. Der erste Schnee war weggetaut, der Winter schien wieder weit weg zu sein, wir kehrten zurück in die Stadt, für eine Stunde nur.
Sie betrachtete Yamals Schultern, die aufrechte Haltung, den Kopf, den er oft ein wenig geneigt hielt, als würde er lauschen.
Ich habe mich verschätzt . Es war meine Schuld. Ich war der Trickster. Ich hätte es besser wissen müssen, aber ich liebte dich so sehr, dass ich mich unverwundbar fühlte. Wir haben uns geküsst und nicht in den Himmel geschaut und die Zeit vergessen. Wir schafften es bei Dämmerung über den Fluss. Cael kam uns entgegen. Aber das Lager war weit weg. Und dann kam das Blau.
Sie presste die Lider zusammen. Im glühenden Schwarz blitzte das letzte Bild auf. In ihren Träumen rief ihr Bruder stets verzweifelt nach ihr und streckte die Hände nach ihr aus. Aber das war nur ein Spiel, das ihre Schuld mit ihr trieb. In Wirklichkeit war es ganz anders gewesen. In Wirklichkeit hatte Yamal sie angeschrien, dass sie sich endlich im Versteck in Sicherheit bringen solle. Nur ein Mensch passte in diesen engen Schacht. Und Cael, ihr Bruder, hatte nicht gezögert, sondern die Luke über ihr zugeworfen. Eine Entscheidung für sie und die Kolonie. Und gegen sein Leben und das von Yamal.
»Ich habe euch nicht vergessen!« Die Worte lösten sich ganz von selbst von ihren Lippen. In der Stille klangen sie so laut wie ein Ruf.
Und als die Gespenster herumfuhren, erkannte sie, dass es doch ein Detail gab, das sie hätte stutzig machen sollen.
Tote atmeten nicht.
Sie schnellte hoch, aber ein Schlag fällte sie, Schnee erstickte sie fast, als sie nach Luft rang. Etwas hielt sie umklammert, ein haariger, muskulöser Arm um ihre Kehle und ein anderer um ihre Taille und ihre Arme. Sie konnte nur treten, und das schien das Wesen nicht im Mindesten zu beeindrucken. »Ich habe sie, was
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