Zweilicht
»Ist doch egal.«
Mr Millar grinste. »Fragen zu den heimischen Eulen, Jay?«
Jay schüttelte den Kopf. Offenbar hatte er sich doch noch nicht daran gewöhnt, wie locker in Amerika das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern war.
Er musste sich nicht einmal ansatzweise Mühe geben, Abstand zu Sally zu halten. Als er kurz vor Mittag für den Geschichtskurs in einen anderen Raum wechselte, behandelte sie ihn wie Luft. Allerdings ertappte er Jenna dabei, wie sie ihn mit ernster Miene sehr genau beobachtete.
»Ist was?«
Jenna zuckte nur mit den Schultern. »War ja eine tolle Party«, bemerkte sie nur. Doch ihre dunkel umrandeten Augen schienen vor Ablehnung nur so zu sprühen. Jetzt fragte Jay sich mit Unbehagen, was Sally ihren Freundinnen wohl über ihr Gespräch auf der Fete erzählt haben mochte.
Immerhin überraschte ihn Madison mit einem verhaltenen, aber echten Lächeln, das den ganzen Tag auf der Stelle heller und wärmer machte.
Obwohl alle Schüler sich heute im alten Teil der Schule drängten, war die Schulkantine halb leer. Alex war einer der Ersten gewesen, die ein Tablett mit Hackbraten und Pommes ergattert hatten. Als Jay sich zu ihm an den Tisch setzte, stopfte er sich bereits das letzte Stück Fleisch in den Mund. Er nickte Jay mit vollen Backen kauend zu und aß seelenruhig weiter.
Madison kam zu ihm herüber, stellte ihr Tablett auf seinem Tisch ab und setzte sich so dicht neben ihn, dass sich ihre Beine und Schultern berührten. Bevor er sich darüber freuen konnte, winkte sie allerdings auch noch ausgerechnet Jenna herbei. Als sie sich ihm schräg gegenübersetzte, war ihre Miene immer noch feindselig. Was hat sie heute nur gegen mich? Fröstelnd zog er die Jacke enger um die Schultern. Es wehte kalt durch den Raum. Bei einem Blick nach oben entdeckte er die Ursache: Auch in diesem Trakt war eine Wand beschädigt. Durch ein Loch konnte er sogar ein Stück Himmel sehen – und einige Fenster hatten keine Scheiben mehr und waren nur notdürftig mit Plastikfolien verhängt.
»Ich fühle mich wie im Dschungelcamp«, brach er das Schweigen am Tisch.
Jenna und Alex sahen ihn verständnislos an.
»Ihr habt schon mitbekommen, dass ein Hurrikan die halbe Stadt lahmgelegt hat? Warum tut ihr alle so, als sei nichts passiert? Warum redet heute niemand vom Sturm?«
Jenna zuckte mit den Schultern. »Wozu? Das Unglück ist passiert. Wir müssen nach vorne schauen.«
Was ist das denn für ein Spruch? Nun, zumindest passte das zu Onkel Matts glorreichem Bild von den New Yorkern: Egal, wie schlimm es kam, jeder machte weiter, als wäre nichts gewesen.
»Dann bis später beim Spiel«, sagte Alex mit vollem Mund und stand auf.
»Bist du sicher, dass es stattfindet?«, fragte Jay.
»Klar, warum nicht?«
»Vielleicht ist der Park verwüstet? Nur so eine Idee.«
Er zuckte zusammen, als Madison unter dem Tisch nach seiner Hand griff.
»Ich habe heute Morgen im Internet geschaut«, erklärte sie. »Der Park hat nicht viel abbekommen. Das Spielfeld ist unversehrt. Und …«, ihre Finger schlossen sich fester um seine Hand, »… auch das Freilichtkino findet statt.«
Es wunderte ihn, dass sie den Kinobesuch vor Alex und Jenna ansprach.
»Du warst im Internet?«, fragte er, um das Thema zu wechseln. »Das heißt, ihr habt Strom zu Hause?«
»Ihr nicht?«
Jay schüttelte den Kopf. »Nur ab und zu für ein paar Minuten. Die Straßenversorgung in unserem Viertel ist marode und fällt immer wieder aus.«
Alex warf ihm einen abschätzigen Blick zu. »Bis später, Fighter«, sagte er und klopfte zum Abschied auf den Tisch. Das klang heute fast wie eine unterschwellige Drohung. Einen Moment lang fragte sich Jay, ob er Alex letzte Woche und bei der Party vielleicht doch falsch eingeschätzt hatte.
Madison stand auf. »Willst du auch noch eine Cola?«, fragte sie Jenna. Aber Jenna schüttelte den Kopf.
Jay und sie blickten Madison nach, als sie zu der Ausgabe ging. Die Stille zwischen ihnen wurde unangenehm lang.
»Hast du Madison gestern geküsst?«, fragte Jenna plötzlich spitz.
Jetzt fiel ihm die Kinnlade nach unten. Es ging also um ihn und Madison.
»Erstens: Nein«, antwortete er langsam. »Zweitens: Selbst wenn es so wäre, glaube ich kaum, dass dich das was angeht.«
Jennas Augen verengten sich.
Ist sie etwa eifersüchtig? Vielleicht stand sie auf Mädchen und Jay hatte es bisher nur nicht kapiert?
»Ich sage dir nur eines, Jay: Pass auf, was du sagst oder tust. Wenn du Maddy in irgendeiner
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