Zweilicht
Weise wehtust, bekommst du nicht nur mit mir Ärger.« Jetzt bin ich wohl endgültig im falschen Film , schoss es ihm durch den Kopf.
Jenna stand auf und riss ihr Tablett so grob hoch, dass ihr leeres Glas umfiel und Messer und Gabel mit einem Scheppern gegen den Rand stießen.
»Hey!«, rief er ihr scharf hinterher, aber Jenna rauschte erbost davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Spinnen jetzt alle?, dachte er missmutig. Er atmete tief durch, griff nach seinem Colaglas und ließ sich gegen die Lehne sinken. Sein Handy piepste und er holte es hervor. Akku leer. Eine rasche Bewegung am Rand seiner Wahrnehmung ließ ihn wieder aufblicken.
Und dann hätte er beinahe Colaglas und Handy fallen gelassen.
Direkt vor ihm, auf Jennas Platz, saß jemand und starrte ihn an. Noch bevor er sie richtig wahrnahm, wusste er bereits, dass sie es war. Das hellblonde Haar war wüst zerzaust und auf ihrer Wange prangte ein Schlammfleck. Sie hatte beide Hände flach auf die Tischplatte gelegt. Eine unruhige Spannung lag in ihrer Haltung, als könnte sie jeden Augenblick aufspringen und davonschnellen.
»Hallo«, flüsterte sie und zog den linken Mundwinkel zu einem triumphierenden Lächeln hoch. Jay zuckte zusammen. Es war, als hätte irgendetwas eine Glocke angeschlagen, ein Ton, zu hoch, um ihn wahrzunehmen, dennoch vibrierte die Luft um ihn wie unter Reizstrom. Wie paralysiert starrte er sie an.
Heute trug sie keinen Speer, aber auch so war ihre Kleidung seltsam genug: Grün und braun, als wollte sie sich tarnen. Viel Leder. Ein breiter Streifen aus grauem … Kaninchenfell? … bedeckte ihre Schultern. Sie trug Lederbänder mit Glasperlen um das Handgelenk und über der rechten Schulter ein zusammengerolltes Seil, an dem ein nasses Blatt klebte.
Ihr Blick ruhte auf dem Handy. Ein knappes Rucken mit dem Kinn. »Was hast du da?«
Er wunderte sich nicht einmal darüber, dass sie so etwas fragte.
»Ein Handy.« Er ertappte sich dabei, dass er ebenfalls flüsterte.
Sie legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. »Aha, und was machst du damit?«
»Telefonieren. »Aber was …«
»Scht!« Sie schreckte hoch und sah sich um. In ihrem Blick lag eine Wachsamkeit, die er nur von Raubtieren kannte. »Wie nennst du dich?« Ihr Flüstern war so leise, dass er die Worte mehr ahnte als hörte.
Er schluckte und versuchte sich immer noch einen Reim auf all das zu machen. Rollenspielerin? , war das Einzige, was ihm einfiel.
»Hey! Hör auf zu träumen. Dein Name!«
Er zögerte, aber ihr Blick war so intensiv, dass er nachgab. »Jay.«
»Jay? Wie der Vogel?«
Er brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was sie meinte. Jay – das bedeutete in seiner neuen Sprache auch Eichelhäher.
Das Verrückteste an dieser Situation war, dass er plötzlich an seinen Vater denken musste. Der einzige Mensch, der ihn Jay genannt hatte. Was, wenn er auch den Eichelhäher meinte und gar nicht den Buchstaben, als er mich Jay nannte? Und wenn ja, warum?
»Und sie ?«, fragte das Mädchen. »Nennt sie dich auch Jay?«
»Klar, was soll die Frage?«
»Ah, dachte ich es mir doch«, kam die knappe Antwort.
»Wer bist du?«
Sie blickte sich hastig um und leckte sich über die Lippen. »Das darf ich dir nicht sagen.«
»Du darfst nicht?«
»Bist du taub? Nein! Und du darfst keinem verraten, dass du mich gesehen hast.«
Eine Gruppe von Schülern lief schnatternd und lachend zu einem Tisch. Das Mädchen schien keiner von ihnen zu bemerken. Doch die Fremde schoss hoch und wollte davonschnellen.
»Halt! Warte!«, flüsterte er. »Wie heißt du?«
Sie schien zu ahnen, dass er sie ohne eine Antwort nicht gehen lassen würde. Ihr Blick irrte nervös umher.
»Nenn mich …«, ihr Blick richtete sich auf etwas hinter ihm. Ihre Miene hellte sich auf. »Ivy!« Sie riss verblüfft die Augen auf und deutete nach links. »Oh nein, wer ist das denn?« Er sah sich um und begriff im selben Moment, dass es nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Als er sich ihr wieder zuwandte, war sie fort – wie weggeschnippt.
Und er saß immer noch mit rasendem Herzen da, das Handy in der Rechten, das Colaglas in der Linken. Nur dass es kein Glas mehr war, sondern – er starrte fassungslos darauf – ein … Blatt? Tatsächlich. Ein zusammengerolltes Blatt, in dem Wasser war. Ein schwarzer Käfer zappelte darin um sein Leben. Erschrocken ließ er es fallen. Das Geräusch von splitterndem Glas ließ die anderen Schüler herumfahren. Scherben zerstreuten sich
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