Zweilicht
anderen war sie nur noch der Trickster, der für ihn verantwortlich war. Und es ärgerte ihn immer noch, wie sie über Madison sprach. Mit Madisons Bild kam auch seine alte Welt wieder zurück. Matt, Aidan. Und sogar Feathers.
*
»Sie müssen irgendwo in der Nähe sein.« Mo war ruckartig stehen geblieben. Die Härchen an ihrem Nacken sträubten sich, sie konnte Jay so deutlich fühlen, als stünde er neben ihr, aber sooft sie sich auch um sich selbst drehte und in jeden Winkel der Hausschluchten spähte, sie entdeckte keine Spur von ihm. Als hätte das Menschenmädchen ihn gestohlen . In den vergangenen Tagen hatte sie die Stadt durchstreift, aber jeder Schritt war wie ein Waten in einem zähen Sumpf von Trauer und Wut gewesen. Wenn sie aufwachte, suchte sie nach Cinnas Nähe und jedes Mal traf die Erkenntnis sie erneut mit der ganzen Wucht der Verzweiflung. Jetzt aber war sie mit einem Mal nur noch Wachsamkeit und Jagdfieber.
Night trat neben sie und lauschte. »Ich höre nichts.«
Ban hob die Nase in den Wind und witterte. Seine Nasenflügel blähten sich.
Mo schloss die Augen und spürte Jays Gegenwart nach. Wie immer erschien sofort das Bild von ihm und dem Mädchen. Er hielt sie in den Armen, er küsste sie und sagte ihr, dass er sie liebte. Sie hatte gedacht, Hass sei gar nicht so viel anders als Liebe, aber jetzt wusste sie es besser. Die Liebe war ein warmer Lufthauch gewesen, Duft und Klarheit. Der Hass war ein heißer, brüllender Sturm.
»Heute finden wir ihn«, flüsterte sie. Und wo er ist, ist auch sie.
naked cowboy
w arte kurz«, flüsterte Ivy. Jay sah ihr mit gemischten Gefühlen hinterher, als sie ein Stück an einer Mauer hochkletterte und zu einem Vorsprung griff. Die schattigen Schluchten waren schon fast abenddunkel. Erst als Ivy wieder zu ihm kam, sah er, dass sie einen schwarz-weißen Vogel in der Hand hatte. Sein Kopf schlenkerte leblos hin und her. Um seinen Hals lag eine Schlinge, an deren Ende ein goldener Ring baumelte. Ein Diamant prangte daran. Jay erinnerte sich an das Brillantarmband, das Ivy damals auf dem Weg zur Brücke verloren hatte. »Du holst den Schmuck also aus den Juweliergeschäften, um Elstern damit in die Falle zu locken?«
»Ja, das funktioniert gut«, flüsterte sie und befestigte den Vogel an ihrem Gürtel. »Ihr Federstaub wirkt fast so gut wie eine Tarnung. Wenn Elsterfedern im Wind wehen, dann verwirbeln sie unsere Spuren und die Ungeheuer können uns nicht mehr wittern. Komm mit!«
Lautlos lief sie voraus. Jay wollte ihr folgen – und wäre beinahe gegen einen Straßensänger geprallt. Er spielte auf einer weißen Gitarre mit blauroter Aufschrift und trug trotz der Kälte nur Cowboystiefel, Hut und eine Unterhose, auf der die Aufschrift »Naked Cowboy« prangte. Jay wich ihm aus und sah sich fassungslos um. Eine Werbetafel pries mit kaltem blauem Leuchten das Parfüm Cool Water an. Businessleute drängten sich rüde an ihm vorbei, doch ihre Berührungen spürte er nur als kalten Hauch.
Hinter ihm rauschte der Verkehr. »Hot town, summer in the city …«, sang der Cowboy, und Madman, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, klatschte begeistert im Takt.
»Jay? Wo bleibst du?«
Er fuhr herum. Ivy stand im zerstörten Raum eines Starbucks-Cafés. Pflanzen rankten über den ehemaligen Tresen, eine Kasse war noch erkennbar, Plastiktische, überzogen von einer Patina aus verkrustetem Schmutz und Moos und halb versunken in schlammigem Erdreich. Schilf ragte aus dem feuchten Untergrund hervor. Es roch nach Dschungel und Verfall.
»Ivy, ich …«
Als sie zu ihm aufblickte, spiegelten sich polierte Fassaden, die hinter ihm aufragten, in ihren Augen. Seine Welt. Und auch Madisons .
Es war ein Fehler, an sie zu denken. Ivy verblasste so schnell wie ein Atemhauch an einer Scheibe. Mit ihr entglitt ihm die Wirklichkeit.
»Oh, verdammt«, flüsterte Ivy. »Es passiert schon wieder, nicht wahr? Das heißt, sie müssen irgendwo in der Nähe sein.«
*
»Er hört ein Lied«, sagte Mo. »Dünne Metallseile, die schwingen – so wie die Brücke.«
»Welche Richtung?«
Mo deutete auf das größte Haus. »Von dort kommt der Klang.«
»Worauf wartest du!«, drängte Night. »Ruf ihn zu dir.«
Coy starrte sie mit großen Augen an.
Mo krampfte die Finger fester in Bans Fell. Es war fast unmöglich, nicht an das Mädchen zu denken – und auch nicht an Cinnas blasses Gesicht. Sie konzentrierte sich ganz auf Jay, auf den Augenblick, in dem sie sich geküsst
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