Zweilicht
hatten, und es war schwierig genug, einen Abglanz dieser Liebe wiederzufinden. Dann lauschte sie dem Lied, rief es herbei und ließ es so stark werden, bis der Wind sich erhob.
»Jay«, hauchte sie in den Wind, der mit dem Namen spielte wie mit einem Ball und ihn mit sich nahm, ihn tausendmal wiederholte, bis es ein Chor von Namen war.
*
Wind erhob sich, pfiff in der Schlucht und zerrte an Jays Haaren. Die Sehnsucht nach seiner alten Welt ergriff ihn so jäh, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Aber nur für einen Moment verspürte er den unwiderstehlichen Drang, den Gürtel mit den Federn abzunehmen, um ganz hineinzutauchen. Hinter Ivy drängten Leute mit Plastiktabletts zu der Theke. Er hätte schwören können, dass einer davon Jude Law war. Er flirtete mit der Kassiererin. Die übrigens Angelina Jolie war. Das ist alles nur in meinem Kopf , wiederholte Jay wie eine Beschwörung. Mit aller Kraft versuchte er, der Trugwelt zu widerstehen. Denk an Matt , befahl er sich. Er hätte mich fast getötet.
Währenddessen durchmischte sich der Gestank nach Sumpf immer stärker mit Asphaltgeruch und dem Duft von Kaffee. Er wollte nach Ivys Hand greifen, aber seine Finger stießen schmerzhaft gegen eine Glasscheibe. Ivy stand dahinter, ihr Mund bewegte sich, aber er verstand nur noch Fetzen, die keinen Sinn ergaben. Schließlich verstummte sie und gab auf. Als er die Hand an die Scheibe legte, hob sie ebenfalls die Hand und legte sie von der anderen Seite dagegen. Sie war nun so blass, dass nur noch ihre Umrisse in der Luft flimmerten.
Im nächsten Moment stand Jay allein da und starrte in der spiegelnden Scheibe in sein eigenes Gesicht. Sein Atem ließ das Glas beschlagen.
»Ivy! Ich weiß, dass du immer noch da bist.«
»Sie sagt, du sollst leise sein«, sagte Madman hinter ihm.
»Du siehst sie immer noch?«
»Klar.« Madman spuckte aus. »Sie steht hinter der Scheibe, aber ich kann sie trotzdem hören. Komisch, nicht?« Er horchte auf und legte den Kopf schief, als würde er lauschen. Empört runzelte er die Brauen. »He, langsam, Lady, ja?«, erboste er sich. »Wenn du mir mit Beschimpfungen kommst, such dir einen anderen Laufburschen.«
»Was sagt sie?«
»Sie sagt, du sollst mir hinterherlaufen. Sie zeigt mir den Weg. Mach hin, Mann, dein Sugar Babe ist wirklich sauer.«
Aber Jay sah immer noch sein Spiegelbild an, das kühle Glas der Scheibe unter seinen Fingern. Es war verrückt zu wissen, dass sie direkt vor ihm stand, unsichtbar, real – und hundert Jahre von ihm entfernt.
Er schloss die Augen und rief sich Ivys Gesicht ins Gedächtnis, ihre Lippen, ihr diebisches Lächeln und ihre kühlen Hände.
»Ivy«, sagte er leise. »Küss mich!«
Das verschlug sogar Madman die Sprache.
»Bitte, Ivy!«, flüsterte Jay. »Ich will zu dir zurück, aber allein schaffe ich es nicht und …«
Weiter kam er nicht. Die Scheibe schmolz dahin wie dünnes Eis, Finger verflochten sich mit seinen, ein Arm umschlang seinen Nacken und dann gab es nur noch Ivys Lippen und den Sog von süßem Schnee. Er umarmte sie und zog sie so fest an sich, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. Es war anders als damals bei Madison. Es hatte nichts von Magie und Geheimnis und nicht den schweren Bann von Zauberworten. Das hier war lebendiges Sonnenlicht, das ihn einhüllte – und wirklicher als alles, was er in der Trugwelt gefühlt hatte. Er hob sie über die zerbrochene Fensterfront – und dann waren sie endgültig wieder in der wirklichen Welt, und sie war so real, als hätte er sie seit ihrer ersten Begegnung niemals losgelassen.
»Das wird nicht gut ausgehen«, orakelte Madman. »Oh nein, das geht nicht gut.«
Atemlos löste sie ihre Lippen von seinen, aber ihr Arm lag immer noch um seinen Nacken. Ihre Augen waren ganz nah und ihre Lippen leicht geöffnet, als sei sie erstaunt. Sie wirkte so irritiert, als wäre sie selbst das Opfer eines Zaubers geworden. Alles in ihm sehnte sich nach einem weiteren Kuss, aber er wagte nicht, sich zu bewegen, als könnte die kleinste Regung sie vertreiben.
»Nur damit wir uns richtig verstehen«, sagte sie atemlos. »Das hier ist auch nur ein Trickster-Kuss, nichts weiter, klar?«
Und dann küsste sie ihn noch einmal, mit ihrem ganzen Herzen und so leidenschaftlich, dass Jay nicht nur die Trugwelt, sondern auch die Wirklichkeit ganz und gar vergaß.
Ein Zweig knackte in der Nähe und brach den Bann. Ivy ließ ihn los und sprang zurück. Warnend legte sie den Zeigefinger auf den Mund.
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