Zweyer, Jan - Rainer
Wand.
Weshalb?«
»Das frage ich mich auch.«
Ihr Juister Kollege, der die letzten Sätze beim Näherkommen gehört hatte, schaltete sich in ihre Überlegungen ein:
»Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen?«
»Was?«, antworteten die Hamburger gleichzeitig. Ihr Tonfall ließ erraten, was sie von der Idee ihres Kollegen hielten.
»Na ja, natürlich haben Sie viel mehr Erfahrung.« Altehuus wiegte bedächtig den Kopf. »Aber es spricht doch einiges dafür, dass der Täter sein Opfer kannte, sonst hätte er die Frau doch wohl kaum als Hure bezeichnet.«
»Muss nicht sein. Psychisch kranke Täter haben manchmal ein ziemlich verkorkstes Frauenbild«, blockte Müller den Deutungsversuch ab.
»Das gilt nicht nur für Kranke«, bemerkte Buhlen trocken.
»Reden Sie bitte weiter, Herr Altehuus.«
»Wenn er mit ihr bekannt war, sie vielleicht sogar geliebt hat…«
»Der Vater des Ungeborenen? Klar, das wäre denkbar.«
Buhlen sah den Obermeister gespannt an.
»… dann könnte es doch so gewesen sein, dass er Marlies Wübber ermordet hat, sie aber nicht einfach im Haus in ihrem Blut liegen lassen wollte. Er wusste ja nicht, wie lange die Leiche unentdeckt bleibt. Vielleicht wollte er sie, wenn er ihr schon das Leben genommen hatte, wenigstens beerdigen? Ein Grab gönnen? Als letzten Dienst sozusagen.«
»Das wäre wirklich krank.« Müller schnaubte. »Andererseits: Wer einen Menschen so abschlachtet, muss in der Tat irgendwo einen Defekt haben. Einen ziemlich großen.«
»Vielleicht war es so, wie Sie sagen. Wenn wir den Mörder gefunden haben, werden wir ihn fragen. Was ist mit dem Karren? Hat Wübber Ihnen…«
»Im Gartenhaus dahinten. Es ist nicht abgeschlossen.«
Die Polizisten umrundeten den Teich und Müller öffnete die knarrende Tür des Holzhauses. Sorgfältig nahm der Beamte das Innere in Augenschein. Dann trat er beiseite. »Wenn es in diesem Haushalt eine solche Karre gegeben hat, ist sie irgendwo. Aber nicht in diesem Schuppen.«
15
Mehrere Scheinwerfer erleuchteten das Kurhaus auf den Dünen hell, es erstrahlte in einem blendenden Weiß. Elke und Rainer stiegen die imposante Freitreppe zum ›Weißen Schloss am Meer‹ hoch und betraten das Gebäude durch das große Portal. Der Empfangschef nahm ihnen die Mäntel ab und führte sie in den historischen Saal. Dezente Klaviermusik war zu hören.
Sie gehörten zu den ersten Gästen. In der Nähe des Büfetts hatte eine Gesellschaft Platz genommen, die sich auf Englisch mit amerikanischem Akzent und Deutsch unterhielt und Abendkleidung trug. Ein junger Mann war sogar in einem Frack erschienen.
»Nobel geht die Welt zugrunde«, raunte Rainer unbeeindruckt Elke zu, als sie die Gruppe passierten.
Sie erreichten ihren Tisch vor den großen Fenstern. Der Maitre rückte ihre Stühle zurecht und ließ sie allein. Rainer warf einen Blick auf die Fliesenmosaiken an den Wänden und den schweren Leuchter aus Goldkristall. »Ich hoffe nur, dass wir uns für das Abendessen hier nicht auf Jahre verschulden müssen.«
»Der Karte nach zu urteilen schon«, antwortete Elke ungerührt und studierte die Menüfolge des Büfetts. »Allein die Vorspeisen! Toll! Hör zu: Hummercocktail in der Papaya, Variationen von geräucherten Edelfischen, Austern auf Eis, Lammschinken an Melone, Seezungenröllchen in Rieslingaspik, Hirschterrine mit hausgemachter…«
»Hör auf. Steht da was von den Preisen?«
»Ja. Ein trockener Riesling kostet fünfzig Mark.«
»Das Fass?«
»Blödsinn.«
»Und das Essen?«
»Keine Ahnung.«
»Ich hole den Kellner.« Er sah sich suchend um.
»Rainer, spinnst du? Du kannst doch in einem solchen Laden nicht nach dem Preis fragen.«
»Nein?«
»Nein! Deine Spesen werden schon reichen.«
»Sagst du. Das Essen hier, die Hotelkosten und bis jetzt keine Provision – wir werden als arme Leute nach Herne zurückkehren. Aber wie du meinst.« Rainer zerrte an seiner Krawatte. Der Anzug, den er nur aufgrund einer massiven Intervention Elkes trug, war seine Arbeitskleidung. So verkleidet trat er sonst nur vor Gericht auf. Jeans und Sakko hätten eigentlich auch gereicht. Verstohlen lugte er zu dem Tisch mit den Deutschamerikanern hinüber. Die Damen in Lang, die Herren in Schwarz und dann der Befrackte – ohne Anzug wäre er sich leicht underdressed vorgekommen, da musste er Elke Recht geben.
Einer der Kellner trat an ihren Tisch. Sie orderten zwei trockene Martini und zum Essen den 97er-Riesling Kabinett, einen
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