Zweyer, Jan - Rainer Esch 01
beruhigt, orderte Esch noch einen Veterano, ohne Wein diesmal. Er zündete sich eine Reval an und registrierte mit Erschrecken seinen heutigen Nikotinkonsum. Das war die zweite Schachtel. Eines Tages würde ihn die Qualmerei umbringen.
Das Drübbelken begann sich allmählich zu füllen. Nachdem die Schlipsträger ihren Feierabendtrunk genommen hatten und die Schüler ihre Fahrräder Richtung Heimat bewegten, trudelte langsam das Stammpublikum ein: übriggebliebene 68er, solche, die sich dafür hielten, Freaks, progressive Yuppies, Emanzen, Spinner und ›Normale‹.
Die Plätze an der Theke waren wie immer als erstes besetzt.
Am Stammtisch hinten links spielten zwei Typen Schach. Auf dem kleinen Podest direkt unter einem der Bilder saß eine recht attraktive Frau, Mitte bis Ende Zwanzig, schätzte Rainer.
Sie trank Kaffee und studierte intensiv die taz. Zwei Tische weiter tuschelte ein Paar miteinander, das auch nicht aufblickte, als die Bedienung die Getränke brachte. Die Bänke zwischen den Säulen in der Mitte des Raumes waren noch leer.
Rainer Esch war mittlerweile beim siebten Wein und Veterano angelangt. Ihm war es nun egal, ob er einen Aldi-Wein und Was-weiß-ich-Weinbrand in sich hineinschüttete.
Wirklich wichtig war doch nur, ob sich die große Strafrechtsklausur morgen mit der Strafprozeßordnung beschäftigen würde oder nicht.
Bedauerlicherweise war es ausgerechnet dieser Strafrechtsschein, der ihm noch zur Zulassung zum ersten Staatsexamen fehlte.
»Wülste noch ‘nen Wein«, fragte Blondi.
Rainer bemühte sich nachzudenken.
»Sag Bescheid, wenn du noch was willst.«
Tief in ihm regte sich so etwas wie Verstand. Blondi legte eine neue Platte auf: »Hey! Think the time is right for a palace revolution.«
Rainers Blick fiel auf die Zeitungsständer hinter der Theke.
Die Stadtzeitung Prinz und eine Antifaschistische Zeitung standen dort einträchtig nebeneinander. Was für eine Mischung, dachte sich der Dreißigjährige. »Nee, zahlen.«
»Sofort. Dreiundsechzigachtzig.«
»Was? Ich wollte den Laden nicht kaufen.«
»Echt witzig. Was is?«
Rainer legte siebzig Mark auf die Theke. »Stimmt so.«
»Oh, danke.« Die Bedienung schenkte ihm ein Lächeln.
»Schönen Abend noch.«
Für eine Septembernacht war es ziemlich kalt und regnerisch.
Rainer war es ganz recht. So konnte er hoffen, wieder etwas nüchterner zu werden. Leicht schwankend machte er sich über die Wälle auf den Weg ins Westviertel.
3
Das Wohnheim lag am Stadtrand von Dinslaken in einem kleinen Waldgebiet, genannt die Hühnerheide. Ein Wohnheim im engeren Sinne war es eigentlich nicht, sondern eine Ansammlung von Baracken. Gemauert zwar und mit einem festen Dach, aber trotzdem Baracken.
Es hieß, die Gebäude hätten die Nationalsozialisten gebaut, um während des Zweiten Weltkrieges Kriegsgefangene, vor allem Russen, unterzubringen. Diese hatten auf den umliegenden Schachtanlagen Zwangsarbeit leisten müssen, nicht selten bis sie zu Tode erschöpft waren. Mangelhafte Nahrung, Mißhandlungen, Folter taten das übrige.
»Vernichtung durch Arbeit« nannten das die Faschisten.
Nach dem Krieg benötigte der Bergbau Arbeitskräfte. Junge Männer aus der gesamten Bundesrepublik wurden angeworben. Der Bergbau hatte einiges zu bieten: guten Lohn und vor allem Sonderrationen an Nahrungsmitteln. Für die Neubergleute mußte Wohnraum in einer durch Bombenhagel völlig zerstörten Region geschaffen werden. Was lag näher, als die Barackensiedlung Hühnerheide zu nutzen.
Getreu dem Zeitgeist während des kalten Krieges bekamen die Häuser Namen: Breslau, Königsberg, Danzig, Magdeburg erinnerten an das untergegangene Großdeutschland. Ein Versammlungssaal wurde gebaut, der der Schutzpatronin der Bergleute gewidmet war, das Barbarahaus.
Später dann, der Bergbau hatte mit erheblichen Absatzschwierigkeiten zu kämpfen, verlor die Hühnerheide als Wohnheim an Bedeutung. Arbeitskräfte waren nicht mehr gefragt, im Gegenteil, der Steinkohlebergbau mußte Personal abbauen. Junge Bergleute wurden älter, gründeten Familien und bezogen eigene Wohnungen. Mehr und mehr Gebäude standen leer.
So wurde ein Teil des Geländes an die Stadt Dinslaken vermietet, die in den Häusern Asylbewerber unterbrachte. Um zu verhindern, daß die Rumänen, Kroaten, Bosnier, Sinti und Roma mit den im übrigen – überwiegend türkischen –
Bewohnern des Wohnheimes allzu engen Kontakt bekamen, ließ die Stadt einen festen, etwa zwei Meter hohen
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