Zweyer, Jan - Rainer Esch 01
grinste. Willkommen im real existierenden Sozialismus, feixte er still.
Er wandte sich nach links, kam an einem im Flur abgestellten Fahrrad vorbei und erreichte, eine Ecke umquerend, das Treppenhaus. Esch blickte hinunter und sah, daß jeweils nach etwa drei, vier Geschossen Gitter im Treppenschacht gespannt waren; wahrscheinlich um zu verhindern, daß sich der sozialistische Werktätige, aus lauter Begeisterung über diesen Prachtbau im Treppenhaus Freudensprünge veranstaltend, irrtümlich zu Tode stürzte.
An der Wohnungstür fand sich kein Namensschild. Nur die Nummer 1004. Esch klopfte und bemerkte, daß sich die Lichtverhältnisse im Türspion veränderten. Der Wohnungsinhaber beobachtete ihn.
Rainer klopfte erneut.
Die Tür öffnete sich einen Spalt. Das Krächzen fragte: »Wer sind Sie? Was wollen Sie? Sie sind doch nicht von den Grünen, oder?«
»Wieso Grüne?«
»Mensch, Bullen, Polente, Polizei. Sind Sie so dämlich, oder tun Sie nur so? Nee, von den Grünen sind Sie nicht. Also, wer sind Sie? Was wollen Sie? Was hab ich mit Take off zu tun?«
»Mein Name ist Rainer Esch. Das sagte ich ja bereits. Aber können wir das denn nicht drinnen besprechen?« Rainer versuchte, durch den Spalt auszumachen, wer da so krächzte.
Es blieb beim Versuch.
»Es ist wirklich wichtig. Bitte.«
Abrupt fiel die Tür ins Schloß. Esch hörte eine Sicherungskette klappern, dann wurde die Tür wieder geöffnet.
»Nu, kommen Sie rein.«
Das Krächzen gehörte zu einem Mittfünfziger mit schütteren, halblangen blonden Haaren, der unrasiert und mit leichtem Bauchansatz vor Esch stand. Der Mann trug einen blauen Trainingsanzug von Adidas und braune Pantoffeln. Die Jacke stand offen und ließ so den Blick auf ein früher mal weißes T-Shirt frei, das die Brust des Besitzers mit einer Donald-Duck-Figur zierte. Der Mann trat einen Schritt zurück und bedeutete Esch mit einer Armbewegung einzutreten.
»Gradaus, ins Wohnzimmer. Na, machen Sie schon.«
Beim Betreten des Raumes blieb Esch unwillkürlich stehen und holte tief Luft. So etwas hatte er noch nie gesehen: Das höchstens zehn Quadratmeter große Wohnzimmer wäre für einen Heimatforscher, der auf der Suche nach Exponaten für eine Ausstellung zum Thema ›Der sozialistische Spießbürger‹
war, eine wahre Fundgrube gewesen. Rechts an der Wand stand ein Wohnzimmerschrank, der zu einem Zeitpunkt gefertigt worden sein mußte, an dem nur eine Stilrichtung etwas galt: die Josef Stalins. Der Schrank hatte in seiner Mitte zwei kleine Glastüren, hinter denen sich verblichene Fotografien in Silberrähmchen verbargen. Direkt vor dem Schrank befand sich ein ehemals vermutlich eichenfurnierter Wohnzimmertisch, der auch schon bessere Tage gesehen hatte.
Links und rechts eskortierten den Tisch zwei Cocktail-Sessel, einer mit grünem und der andere mit zartrosa Stoff bezogen, welcher an den Kanten schon so durchgescheuert war, daß man die Sprungfedern erahnen konnte, sofern Sessel wie diese überhaupt gefedert waren. An der Wand waren in rahmenlosen Bildhaltern mehrere Urkunden aufgehängt; eine konnte Esch entziffern:
Für den Sieger im sozialistischen
Komplexitätswettbewerb.
Bevor er sich fragen konnte, was das zum Teufel nun war, wurde seine Aufmerksamkeit von der weiteren Gestaltung des Raumes wieder vollständig in Anspruch genommen.
An der linken Seite sah Rainer eine Art Liege, die mit einer braunen Tagesdecke überzogen war. Auf der Liege waren sorgfältig drei Kissen mit Brokatbesatz drapiert, wobei der mittige Kniff an der Oberseite der Kissen nicht fehlte.
Zwischen den Kissen thronte eine Puppe in einem riesigen, hellblauen Spitzenkleid, welches ausladend über das Sofa floß.
Über dem Sofa hing tatsächlich ein goldeingefaßtes Gemälde mit einem röhrenden Hirsch im Morgennebel – das kannte Esch bisher nur aus Horrorerzählungen. In der Ecke stand auf einem Stilhocker ein Trum von einem Fernsehgerät, darunter auf dem Boden ein Videorecorder von Sony, das neueste Modell. Ein Haufen Videokassetten lag daneben. Gekrönt wurde das Ganze durch einen Kronleuchter, der den Raum noch überladener wirken ließ, als er ohnehin schon war.
»Schön haben Sie’s hier«, bemerkte Rainer.
»Nu.«
»Wie bitte?« Mit diesem eigentümlichen Laut konnte Esch nichts anfangen.
»Nu.«
»Ach so.« Der Wessi verstand nur Bahnhof.
»Setzen Sie sich.«
Donald Duck wies auf einen der beiden Sessel. Esch entschied sich für zartrosa und war überrascht, daß die
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