Zweyer, Jan - Rainer Esch 01
Zeit nicht tun würden. So wurden nur diejenigen durch die Schilder angesprochen, die ohnehin in die jeweilige Gegend wollten. Auf dem Schild, an dem Esch vor etwa einer halben Stunde vorbeigefahren war, hatte Senftenberger Seen gestanden. Und das Gewässer vor Rainer war ohne Zweifel einer von diesen.
Der See lag etwas tiefer als die ihn umgebende Landschaft und war am Horizont von Waldgebieten gesäumt. Eigentlich war der Anblick ganz idyllisch, wenn man die am Horizont aufragende Silhouette eines Kraftwerkes ignorierte. So etwas gab es allerdings auch im Ruhrgebiet, so daß Esch sich an dem Industriekomplex nicht weiter störte.
Einem Straßenschild entnahm er, daß die kleine Neubausiedlung links der Straße Kleinkoschen hieß. Wären da nicht einige Häuser im DDR-typischen Grau gewesen, hätte man das Neubauviertel in nichts von Orten in Deutschland-West unterscheiden können.
Nachdem er einige weitere kleine Ortschaften durchquert hatte, deren Namen ihm genausowenig sagten, deuteten mehrere Autohäuser und Baumärkte auf der grünen Wiese an, daß er sich einer größeren Stadt näherte. Hoyerswerda stand auf dem Ortseingangsschild, und darunter Wojerecy. Esch erinnerte sich an eine Fernsehdokumentation, die er an einem verregneten Vormittag im Bildungsangebot eines der dritten Fernsehprogramme gesehen hatte. Die Region, durch die er fuhr, nannte sich Lausitz. Und diese Lausitz war das angestammte Siedlungsgebiet der Sorben, eines slawischen Volksstammes. Die Sorben hatten schon in dem untergegangenen Arbeiter-und Bauernparadies eine gewisse kulturelle und ethnische Souveränität mit eigenen Schulen und eigener Sprache genossen. Nach der Vereinigung der beiden Deutschlands galten die Sorben als einzige ethnische Minderheit in der Bundesrepublik, wenn man von den Dänen in Nordschleswig-Holstein mal absah. Wojerecy mußte also der sorbische Name für Hoyerswerda sein.
Zufrieden mit seinem guten Gedächtnis steuerte Rainer die erste Tankstelle an, um zu tanken und sich einen Stadtplan von Hoyerswerda zu besorgen. Einen kurzen Moment dachte er darüber nach, in welcher Sprache er mit einem eventuell nur des Sorbischen mächtigen Tankwart reden sollte, verwarf seine Überlegung, es mit Englisch zu versuchen, aber recht schnell wieder. Schließlich war auch die Lausitz noch Deutschland, wenn sie auch, aus seiner Perspektive betrachtet, am anderen Ende knapp vor Polen lag.
Wie erhofft, hatte Esch weniger Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit dem Tankstellenpächter als befürchtet.
Der sprach zwar nicht sorbisch, sondern sächsisch, was im Grunde für Rainer auf ein und dasselbe hinauslief. Aber nach mehrmaligem Nachfragen war der Pächter bereit, in ein Sprachidiom zu wechseln, welches dem Hochdeutschen ähnelte, so daß ihre Verhandlungen dann doch für beide Seiten zufriedenstellend abgeschlossen werden konnten. Beim Hinausgehen tröstete Esch sich mit dem Gedanken, daß er auch in Oberbayern nicht in der Lage war, mit einem Einheimischen mehr als die tägliche Grußformel auszutauschen. Zum Glück war wenigstens das Schriftbild vertraut und nicht etwa kyrillisch. Dermaßen beruhigt begann Rainer, den Lausitzer Platz im Stadtplan zu suchen. Der Karte nach mußte er leicht zu finden sein.
Das angepeilte Ziel lag mitten in der Neustadt Hoyerswerdas.
Esch kurvte lange um den von Hochhäusern in Plattenbauweise gesäumten Platz herum, bis er einen Parkplatz in der Nähe eines Einkaufszentrums fand. Lausitz Center stand über dem Eingang. In der Hoffnung erfahren zu können, wo sich das Haus mit der Nummer 7 befand, stiefelte Esch in das Einkaufszentrum.
Leise Musik empfing ihn, kaum daß er das Gebäude betreten hatte. Warenhäuser und Supermärkte, Boutiquen, Kosmetikgeschäfte, ein Buchhändler, Friseure und Reinigungen, kurz: Annähernd das komplette Ensemble spätkapitalistischer Konsumtempel hatte sich hier angesiedelt.
Wie in Recklinghausen, nur etwas größer, dachte Rainer.
Zwanzig Minuten und zehn erfolglose Versuche später, Passanten den Weg zum Lausitzer Platz 7 zu entlocken, verließ er das Einkaufsparadies wieder und stand vor einer kleinen Pinte, deren Anblick ihm schlagartig klarmachte, daß er seit fast einem Tag nicht einen Tropfen Alkohol zu sich genommen hatte. Der Jurastudent ließ sich an einem der Tische nieder, die zwischen den hochaufragenden Betonwänden eines Plattenbaus und dem Einkaufszentrum aufgestellt waren, und bestellte ein großes Pils.
»Warsteiner oder
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