Zweyer, Jan - Rainer
positiv. Und genau darauf kam es an. Libber hatte die Karte gegen eine kleine Gebühr aus der Hand gegeben. Erst in einigen Wochen würde er den Verlust bemerken und sie als gestohlen melden. Da war dann der Deal längst über die Bühne gegangen.
Snoopy hatte sich den Namen und die Adresse des Kartenbesitzers eingeprägt. Die Geschichte, die er dem Mediziner gestern bei seinem ersten Besuch erzählt hatte, war ihm flüssig über die Lippen gekommen. Er hatte dem Arzt wahrheitsgemäß gesagt, dass er Junkie und an Aids erkrankt sei. Vor einigen Wochen sei er nach Essen gezogen. Nein, in ärztlicher Behandlung sei er noch nicht gewesen. Dass er positiv war, habe man bei einer Blutspende festgestellt. Der Doktor hatte keinen Verdacht geschöpft, ihn untersucht, Blut abgenommen und für heute wieder in die Praxis bestellt.
Und jetzt hockte Snoopy alias Jens Libber im Wartezimmer der Arztpraxis am Viehofer Platz und blätterte in einer Illustrierten. Es war ziemlich heiß in dem Raum, obwohl alle Fenster offen standen und dann und wann ein leichter Luftzug durch das Zimmer zog. Rechts neben ihm schwitzte und schnaufte ein dicker Mann, der mindestens drei Zentner auf die Waage brachte. Ihm gegenüber redete eine junge Türkin beruhigend auf ihr Kleinkind ein, das sie sanft im Arm schaukelte.
Eine junge Frau im weißen Kittel öffnete die Tür. »Herr Klosse, bitte.«
Das Walross schraubte sich stöhnend aus dem Freischwinger und stampfte durch den Raum. Snoopy widmete sich wieder dem spannenden Liebesleben der oberen Zehntausend. Nach einigen Minuten legte er das Produkt der Regenbogenpresse zurück und schloss die Augen.
Fast wäre er eingenickt. Er registrierte erst spät, dass der nächste Aufruf ihm galt. »Herr Libber, bitte.« Die Sprechstundenhilfe hielt ihm die Tür auf. Snoopy folgte ihr über einen Flur und betrat ein Besprechungszimmer.
Der Arzt sah auf und reichte ihm die Hand. »Setzen Sie sich bitte.«
Gehorsam nahm der Junge auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. Der Internist blätterte in irgendwelchen Unterlagen und sagte dann: »Ich will nicht lange herumreden.
Es ist sicher. Sie sind HIV-positiv.«
Snoopy fragte sich, wie der Doc so schnell an das Ergebnis der Blutuntersuchung gekommen war. Das Resultat seines ersten Test hatte deutlich länger auf sich warten lassen.
»Das ist zunächst nur eine Diagnose, jedoch eine bestätigte.
Es ist aber keinesfalls sicher, dass die Krankheit wirklich zum Ausbruch kommt. Und auch dann können wir durch geeignete Medikamentierung…«
Snoopy hörte nicht mehr hin. Das Gesülze kannte er schon.
Er schaute an dem Arzt vorbei auf die Regalwand in dessen Rücken. Neben diverser medizinischer Fachliteratur lagerten dort, zum Teil hinter Glas, Mineralien und Versteinerungen.
Einige der Stücke waren von beeindruckender Größe.
»… die Medikamente stabilisieren das Immunsystem nur dann, wenn Sie die Einnahmeintervalle genauestens befolgen, da…«
Ob die Teile etwas wert waren? Vor allem der große Abdruck in der Schieferplatte links erweckte Snoopys Aufmerksamkeit.
Ein ähnliches Insekt hatte er auf einem Plakat gesehen, das für eine Ausstellung geworben hatte. Leute hatten Eintritt bezahlt, um sich die Versteinerungen anzugucken. Und hier lagen die Dinger quasi auf dem Präsentierteller. Er würde sich auf der Straße umhören. Vielleicht gab es ja Interessenten dafür.
»… einige Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg geben.
Verleihen Sie unter keinen Umständen Ihr Besteck, da sonst…«
Der Junge amüsierte sich still. Was wusste der Typ schon vom Leben auf der Straße! Wenn einer den Affen machte, war dem alles egal. Der kannte keine Freunde. Der zog auch einem anderen Junkie, der sich gerade einen Schuss gesetzt hatte, die Pumpe aus dem Arm und drückte sie sich selbst in die Venen in der Hoffnung, einen kleinen Rest von dem Zeug zu ergattern. Das Besteck nicht verleihen. Dass er nicht lachte!
»… wäre ein freiwilliger klinischer Entzug in Ihrem Fall…«
Entzug! Er hätte dem Klugscheißer erzählen können, wie sein Entzug damals ausgesehen hatte: drei Nächte in einer gepolsterten Zelle in dem Heim, in das ihn die Bullen geschleppt hatten. Er hatte gebrüllt und getobt. Sie hatten ihm keine Schmerzmittel verabreicht. Mit Methadon, damit könnte ein Entzug vielleicht klappen. Vielleicht. Aber kaum einer kam in die Programme. Zu teuer. Und zu geringe Erfolgsaussichten, stand in der Zeitung. Klinischer Entzug? Die vielen
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