Zweyer, Jan - Rainer
melodramatischen Abschiedsbrief anhört. Keine Angst, ich werde Sie nicht mit Selbstmitleid überschütten. Schließlich kennen wir uns dafür zu wenig, nicht wahr? Scherz beiseite.
Vorgestern habe ich Ihr Schreiben erhalten, mit dem Sie mir mitteilen, dass nach Ihrer Ansicht keine Bedenken gegen den Verkauf meiner Lebensversicherung an FürLeben bestehen.
Danke, dass Sie so schnell gearbeitet haben. In meiner Situation ist man für jede Stunde froh, glauben Sie mir. Ich habe also sofort den Agenten von FürLeben angerufen, die unterschriebenen Verträge zur Post gebracht und eben per Fax die Nachricht erhalten, dass der mir zugesagte Betrag bereits auf das Treuhandkonto überwiesen wurde. Ohne Ihren Rat hätte ich vermutlich nicht auf einer solchen Regelung bestanden.
Sobald ich über das Geld verfügen kann, werde ich meine Absicht in die Tat umsetzen und mit Sabine auf Reisen gehen.
Unsere erste Station ist das obere Niltal. Ich möchte unbedingt die altägyptischen Tempel sehen. Ich habe noch eine letzte Bitte an Sie: In der Anlage finden Sie die Kopie meines Testaments. Das Original habe ich beim Nachlassgericht in Recklinghausen hinterlegt. Sie können dem Schriftsatz entnehmen, dass mein ganzes Vermögen (sofern überhaupt noch etwas von dem Geld übrig sein sollte, was ich von FürLeben erhalten habe) an meine Freundin Sabine Schollweg gehen soll. Wenn es nach Sabine gegangen wäre, hätten wir noch geheiratet. Aber ihre Eltern sind strikt dagegen. Das hat nichts mit meiner Krankheit zu tun. Sie wissen nicht einmal von der Leukämie. Sie sind einfach der Meinung, dass ihre Tochter etwas Besseres verdient hat als einen abgebrochenen Sozialwissenschaftler, der seine Brötchen als freiberuflicher Redakteur eines Anzeigenblättchens und kleiner Teilzeitbeschäftigter bei der Recklinghäuser Stadtverwaltung verdient: Vermutlich haben sie sogar Recht. Sie würden Sabine verstoßen und enterben, wenn sie sich ihrem Willen nicht beugen würde. Und das wäre zu viel verlangt. Deshalb habe ich jeden Gedanken an eine Heirat weit von mir gewiesen, denn ich wollte keinen Keil zwischen Sabine und ihre Eltern treiben. Ich möchte aber unbedingt, dass sie das bekommt, was noch von dem Geld übrig ist. Ich denke, dass mein Bruder Paul keine Einwände erheben wird.
Sabine ist es übrigens, die Ihnen dieses Schreiben gegeben hat. Bitte helfen Sie ihr bei der Erledigung der erforderlichen Formalitäten.
Ihr Honorar wird hoffentlich nicht allzu hoch sein, oder? Das ist schon ein wenig unverschämt von mir, ich weiß. Aber ich hatte einen so guten Eindruck von Ihnen. Deshalb verstehen Sie sicher, dass ich so offen zu Ihnen bin. Ich bedanke mich noch einmal für Ihre Mühen. Leben Sie wohl, Herr Esch.
Ihr Horst Mühlenkamp
PS: Bitte zeigen Sie Sabine diesen Brief nicht. Aber sagen Sie ihr, dass ich sie immer geliebt habe.
Rainer schluckte. Das Schreiben ging ihm ziemlich an die Nieren. Er stand auf und kondolierte. »Mein herzliches Beileid.«
»Danke.« Sabine Schollweg hatte ihn während der Lektüre nicht aus den Augen gelassen. Sie fragte: »Was steht in dem Brief?«
»Ihr Freund bittet mich, Ihnen zu helfen.«
»Wobei?«
»Er hat ein Testament gemacht und es beim Nachlassgericht hinterlegt. Bis Sie sein Erbe antreten können, müssen einige Formalitäten abgewickelt werden.«
»Horst hat ein Testament gemacht? Aber warum denn?« Ihre Augen schimmerten feucht.
»Ja.« Rainer erinnerte sich an das letzte Gespräch, das er mit dem Verstorbenen geführt hatte. »Anscheinend hat er bei seinen Aktienoptionen eine glückliche Hand gehabt.«
»Die Aktien sind etwas wert?«
»Sie wussten nichts davon?«
»Er hat mir damals, kurz nachdem er seine Lebensversicherung verkauft hat, nur erzählt, dass er ein wenig spekuliert habe. Der Gedanke, dass jemand mit einer so kurzen Lebenserwartung eine im Grunde langfristige Anlage tätigt, hat ihn amüsiert. Und jetzt ist er tot.« Sabine Schollweg begann zu weinen. Für einen Moment war nur ihr Schluchzen zu hören.
Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie griff zu einem Papiertaschentuch und trocknete ihre Tränen.
»Ich möchte seinen Brief sehen.«
Das hatte Rainer befürchtet. »Ich glaube nicht, dass ihm das recht wäre.«
Die junge Frau streckte fordernd ihre Hand aus. »Bitte.«
»Er…«
»Geben Sie ihn mir.« Ihr ausgestreckter Arm war wie in Stein gemeißelt und der Ton ihrer Stimme ließ keinen Widerspruch zu.
Als Rainer in die verweinten, aber
Weitere Kostenlose Bücher