Zwielicht
stand, würden sie sich zu einem Jahrmarktbummel einfinden.
Nach Schließung des Rummelplatzes wurden alle Lichter gelöscht; nur die Lämpchen am Kinderkarussell blieben eingeschaltet. Dort versammelten sich die Schausteller, um Jelly Jordan die letzte Ehre zu erweisen. Hunderte von uns scharten sich um das Karussell, die Menschen in den vordersten Reihen waren in gelbes und rotes Licht getaucht, das eine ähnliche Stimmung erzeugte wie Kerzenschein und die farbigen Fenstergläser in einer Kathedrale. Jene, die in diesem Freiluft-Kirchenschiff weiter hinten standen, waren von andächtigem Halbdunkel oder Trauerschwarz umgeben. Manche standen auf den Plattformen anderer Fahrgeschäfte, und andere waren auf Lastwagen geklettert. Alle schwiegen wie am Montagmorgen, als die Leiche aufgefunden worden war.
Die Aschenurne wurde auf eine der Bänke gestellt; Seejungfrauen bildeten auf beiden Seiten die Ehrenwache, und stolze Pferde bildeten den Leichenzug. Arturo Sombra ließ das Karussell fahren, allerdings ohne Musik.
Während es sich stumm drehte, las Buchhalter Dooley ausgewählte Abschnitte aus einem Kapitel des Kinderbuchs ›The Wind in the Willows‹ [ dt. Titel:›Die Leutchen um Meister Dachs‹; Anm. d. Übers. ]
von Kenneth Grahame vor, wie Jelly es in seinem Letzten Willen verfügt hatte.
Dann wurde der Karussellmotor abgestellt.
Die Pferde blieben langsam stehen.
Die Lichter erloschen.
Wir gingen nach Hause, und auch Jelly Jordan war heimgegangen.
Rya schlief sofort ein. Ich lag wach, wunderte mich über Joel Tucks Verhalten, machte mir Sorgen wegen des Riesenrads und wegen der Vision von Ryas blutigem Gesicht, fragte mich beunruhigt, welche Ränke die Trolle wohl gerade in diesem Moment schmieden mochten.
Die Zeit schleppte sich dahin, und ich verfluchte meine Zwielicht-Augen. Manchmal wünschte ich, ich besäße keine übersinnlichen Kräfte, besäße nicht die Fähigkeit, Trolle zu sehen. Manchmal beneide ich andere Menschen um ihre Ahnungslosigkeit, um ihre völlige Unbefangenheit im Umgang mit den Dämonen. Vielleicht ist es wirklich besser, nicht zu wissen, daß die Trolle unter uns sind. Besser, als sie zu sehen und sich hilflos, verfolgt und der Übermacht ausgeliefert zu fühlen. Zumindest wäre Unwissenheit eine gute Medizin gegen Schlaflosigkeit.
Allerdings wäre ich, wenn ich die Trolle nicht sehen könnte, wahrscheinlich nicht mehr am Leben, wäre den sadistischen Spielen meines Onkels Denton zum Opfer gefallen.
Onkel Denton...
Es ist nun an der Zeit, von jenem Troll zu sprechen, der sich damals in meiner eigenen Familie eingenistet hatte, so perfekt getarnt, daß nicht einmal die scharfe Schneide einer Axt die Verkleidung zu durchdringen und das darunter verborgene Monster zu enthüllen vermochte.
Die Schwester meines Vaters, Tante Paula, war in erster Ehe mit Charlie Forster verheiratet gewesen, und sie hatten einen Sohn, Kerry, der im gleichen Jahr und Monat wie ich geboren wurde. Doch Charlie starb an Krebs, als Kerry und ich drei Jahre alt waren. Tante Paula blieb zehn Jahre allein, und Kerry wuchs ohne Vater auf. Dann trat Denton Harkenfield in ihr Leben, und sie beschloß, ihrem Witwenstand ein Ende zu bereiten.
Denton war ein Fremder in unserem Tal. Er stammte nicht einmal aus Oregon, sondern aus Oklahoma (das behauptete er zumindest), aber alle akzeptierten ihn mit erstaunlicher Bereitwilligkeit, wenn man bedenkt, daß Menschen, die schon in der dritten Generation im Tal wohnten, von der Mehrheit, die ihre Abstammung bis zur Besiedlung des Nordwestens zurückverfolgen konnte, oft als ›Neue‹ bezeichnet wurden. Denton hatte ein ansprechendes Äußeres, war höflich und bescheiden, lachte gern und verfügte über einen schier unerschöpflichen Vorrat an amüsanten Anekdoten und interessanten Erlebnissen. Er war der geborene Geschichtenerzähler. Obwohl er Geld zu haben schien, lebte er einfach, stellte keine hohen Ansprüche und war kein Angeber. Alle mochten ihn.
Alle außer mir.
Als Kind hatte ich die Trolle nicht deutlich sehen können.
Hin und wieder — im ländlichen Oregon allerdings nicht oft — traf ich jemanden, der etwas eigenartig Verschwommenes an sich hatte und in dessen Innern ich dunkle rauchartige Schattengebilde wahrzunehmen glaubte. Ich spürte, daß ich bei diesen Menschen vorsichtig sein mußte, auch wenn ich nicht wußte warum. Doch als die Pubertät meinen Hormonhaushalt und Stoffwechsel veränderte, begann ich die Dämonen deutlicher zu
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