Zwielicht
Seegefechts im Golf von Tongking, als der Vietnamkonflikt sich zu einem regelrechten Krieg ausweitete — obwohl sich noch niemand vorstellen konnte, welche Ausmaße er annehmen würde. Und die Realität der nuklearen Bedrohung, die jederzeit mögliche totale Auslöschung, schien in jenem Jahr stärker als je zuvor das nationale Bewußtsein zu erschüttern. Denn plötzlich beschäftigte dieses Thema sämtliche Kunstrichtungen, und Filme wie ›Dr. Seltsam‹ und ›Sieben Tage im Mai‹ waren das Tagesgespräch. Wir spürten, daß wir am Rand eines schrecklichen Abgrunds dahintaumelten, und die Musik der Beatles spendete uns in dieser Situation Trost — etwa so, wie wenn man auf einem Friedhof pfeift, um beklemmende Gedanken an verwesende Leichen zu verdrängen.
Am 16. März, einem Montag, zwei Wochen nach unserer Hochzeit, lagen Rya und ich nachmittags am Strand, unterhielten uns leise und hörten Musik im Transistorradio, das zu einem guten Drittel Songs der Beatles und ihrer Imitatoren brachte. Am Sonntag war der Strand überfüllt gewesen, doch jetzt hatten wir ihn fast für uns allein. Das Meer leuchtete in der Sonne, so als würden Millionen von Goldmünzen aus einer versunkenen spanischen Galeone plötzlich von der Flut angeschwemmt. Der weiße Sand wurde von dieser grellen subtropischen Sonne immer stärker ausgebleicht, und wir wurden täglich — ja stündlich — brauner. Meine Haut hatte schon die Farbe von Kakao, während Ryas Bräune einen weichen goldenen Schimmer aufwies. Dieser honigfarbene Glanz wirkte so erotisch, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, sie von Zeit zu Zeit zu berühren. Obwohl sie jetzt rabenschwarze Haare hatte, war sie nach wie vor ein goldenes Mädchen, jene Tochter der Sonne, in die ich mich vergangenen Sommer auf den ersten Blick verliebt hatte.
Eine leichte Melancholie überschattete damals unsere Tage, wie die fernen Klänge einer nur halb gehörten schwermütigen Melodie. Überschattet ist eigentlich nicht das richtige Wort, denn wir waren nicht traurig, und man konnte auch nicht sagen, daß wir zuviel Düsteres gesehen und erlebt hatten, um glücklich zu sein. Wir waren oft — sogar meistens — glücklich. In kleinen Portionen kann Melancholie etwas Bittersüßes und fast Tröstliches an sich haben; durch den Kontrast wird Glück noch stärker wahrgenommen, speziell die sinnlichen Genüsse. Auch an jenem Montagnachmittag hüllte uns jene nicht unangenehme Melancholie ein; wir wußten, daß wir uns später, zu Hause im Wohnwagen, auf unbeschreiblich intensive Art lieben würden.
Zu jeder vollen Stunde hörten wir in den Rundfunknachrichten über Kitty Genovese, die zwei Tage zuvor in New York ermordet worden war. 38 ihrer Nachbarn in Kew Gardens hatten ihre entsetzten Hilferufe gehört und von ihren Fenstern aus beobachtet, wie ein Angreifer wiederholt mit einem Messer auf sie einstach, sich einige Schritte entfernte, zurückkam und erneut auf sie einstach, bis sie vor ihrer Haustür tot liegenblieb. Keiner der Nachbarn war ihr zu Hilfe geeilt. Erst eine halbe Stunde nach Kittys Tod hatte jemand die Polizei gerufen. Zwei Tage später machte dieser Mord noch immer Schlagzeilen, und das ganze Land versuchte zu verstehen, was die alptraumhaften Ereignisse in Kew Gardens über die Unmenschlichkeit, Gefühllosigkeit und Isolation moderner Stadtbewohner — Männer und Frauen — aussagte. »Wir wollten einfach in nichts hineingezogen werden«, sagten die 38 Zuschauer, so als sei sogar ein Mitmensch in Not kein ausreichender Grund, die Haltung eines unbeteiligten Zuschauers aufzugeben und Nächstenliebe walten zu lassen. Rya und ich wußten natürlich, daß einige dieser 38 wahrscheinlich keine Menschen, sondern Trolle waren, die sich an den Qualen der sterbenden Frau und am Schuldbewußtsein der feigen Zuschauer weideten.
Nach den Nachrichten schaltete Rya das Radio aus und stellte leise fest: »Nicht alles Böse auf der Welt geht nur von den Trollen aus.«
»Nein.«
»Wir sind selbst imstande, Greueltaten zu begehen.«
»Durchaus«, stimmte ich zu.
Sie schwieg einen Augenblick und lauschte den fernen Schreien der Möwen und dem sanften Rauschen der Wellen.
Schließlich meinte sie: »Mit jedem Jahr drängen die Trolle Güte, Ehrlichkeit und Wahrheit immer mehr ins Abseits, durch ihre Grausamkeit, durch das von ihnen verursachte Leid, durch ihr Morden. Unsere Welt wird immer kälter und gemeiner, hauptsächlich ihretwegen, auch wenn sie nicht an allem
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