Zwielicht
war sehr groß, allerdings nicht endlos wie in Ryas Traum. Hunderte von Rechtecken, Quadraten und Dreiecken aus Granit und Marmor, angestrahlt von Bogenlampen entlang einer Straße am Fuße des Hügels. Der untere Teil des Friedhofs war in helles Licht getaucht, und von diesem Hintergrund hoben sich die Grabsteine auf den oberen Terrassen silhouettenhaft ab. Anders als im Alptraum war der Friedhof nicht verschneit, aber die Quecksilberdampflampen erzeugten ein weißliches Licht mit einem leichten blauen Schimmer, und dadurch wirkte das Gras wie mit Rauhreif überzogen. Die Grabsteine schienen Mäntel aus Eis zu tragen, eine Brise wehte Samen von den Bäumen, und diese mit weißen Membranen ausgestatteten Samen wirbelten wie Schneeflocken durch die Luft, so daß der Gesamteindruck der jener Winterszene im Traum sehr ähnelte.
Rya war nicht stehengeblieben. Sie rannte einen gewundenen Pfad zwischen den Grabsteinen hinab und hatte den Abstand zwischen uns wieder etwas vergrößert.
Ich fragte mich, ob sie gewußt hatte, daß es diesen Friedhof gab, oder ob er für sie ein ebensogroßer Schock wie für mich gewesen war. Sie war schon mehrere Male in Yontsdown gewesen, und es war durchaus möglich, daß sie einen Waldspaziergang gemacht hatte und dabei auch den Hügel hinaufgestiegen war.
Aber wenn sie von diesem Friedhof gewußt hatte — warum war sie dann nicht in eine andere Richtung gerannt, warum hatte sie nicht wenigstens versucht, dem Schicksal, das wir beide in unseren Träumen vorhergesehen hatten, in den Arm zu fallen?
Ich kannte die Antwort. Sie wollte nicht sterben... und gleichzeitig wollte sie sterben.
Sie wollte nicht, daß ich sie einholte.
Und doch wollte sie, daß ich sie einholte.
Ich wußte nicht, was passieren würde, wenn sie mir in die Hände fiel. Aber ich konnte nicht einfach kehrtmachen, und ich konnte auch nicht stehenbleiben, so als wäre ich eines der steinernen Grabmäler.
Ich folgte ihr.
Auf der Wiese und im Wald hatte sie sich kein einziges Mal nach mir umgedreht, doch jetzt tat sie es, so als wollte sie sich vergewissern, daß ich ihr noch folgte. Sie rannte weiter, drehte sich wieder um, rannte langsamer. Auf dem letzten Stück des Hügels bemerkte ich, daß sie ein langgezogenes Heulen ausstieß, ein schauriges eintöniges Klagelied ohne Worte. Und dann holte ich sie ein, packte sie, riß sie zu mir herum.
Sie schluchzte, und ihre Augen hatten den Ausdruck eines gehetzten Kaninchens. Sie suchte flüchtig meinen Blick, dann preßte sie sich an mich, und im ersten Moment dachte ich, sie hätte in meinen Augen etwas gelesen, was ihr neue Hoffnung gab, aber in Wirklichkeit hatte sie im Gegenteil etwas gesehen, das ihre Furcht noch vergrößerte. Und sie hatte sich nicht trostsuchend an mich geschmiegt, sondern als meine erbitterte Feindin. Sie hatte mich umarmt, um den tödlichen Stich leichter führen zu können. Ich fühlte anfangs keinen Schmerz, nur Wärme, und als ich dann das Messer sah, war ich zunächst überzeugt davon, daß das nur ein weiterer Alptraum war.
Mein eigenes Messer!
Sie hatte es offenbar aus der Kehle des toten Polizisten gerissen. Ich packte die Hand, die das Messer hielt, und hinderte sie sowohl daran, es tiefer in mich zu bohren, als auch es herauszuziehen und abermals zuzustechen. Die Klinge war etwa sieben Zentimeter eingedrungen, links von meinem Bauchnabel, was immerhin besser war, als wenn sie meinen Magen und Dickdarm durchbohrt hätte, was den sicheren Tod bedeutet hätte. Es war auch so schlimm genug. Zwar verspürte ich noch immer keinen Schmerz, aber die Wärme breitete sich aus und verwandelte sich in Hitze. Sie versuchte mir das Messer zu entwinden, und ich sah in meiner Verzweiflung nur einen einzigen Ausweg.
Wie im Traum senkte ich den Kopf, näherte meinen Mund ihrem Hals und... und brachte es nicht fertig.
Ich konnte sie nicht totbeißen, so als wäre ich ein wildes Tier. Ich konnte ihre Halsschlagader nicht durchbeißen, konnte nicht einmal den Gedanken ertragen, daß ihr Blut in meinen Mund spritzen würde. Sie war kein Troll. Sie war ein Mensch.
Sie war meinesgleichen. Sie gehörte zu unserer armen, kranken, erbärmlichen, mit Schuld beladenen Rasse. Sie hatte Leid erdulden müssen, sie hatte schreckliche Zeiten erlebt, und wenn sie Fehler gemacht hatte, sogar riesige Fehler, so hatte sie doch ihre Gründe dafür gehabt. Und wenn ich ihr Verhalten auch nicht gutheißen konnte, so konnte ich es doch verstehen, und Verständnis ist
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