Zwielicht
schien.
Rya parkte etwa 100 Meter hinter der Abzweigung am Straßenrand, an einer Stelle, wo der Schneeräumtrupp auch die Böschung geräumt hatte, um Platz zum Wenden zu schaffen.
Als wir ausstiegen, stellten wir fest, daß es viel kälter geworden war, seit wir im Supermarkt unsere Einkäufe erledigt hatten. Ein feuchter Wind fegte vom Gebirge herab, kam aber offenbar ursprünglich aus dem fernen Norden, aus der öden kanadischen Tundra und dem arktischen Eis, denn diese reine, ozonhaltige Luft war unverkennbar polaren Ursprungs. Rya und ich trugen mit Pelzimitat gefütterte Wildledermäntel, Handschuhe und warme Stiefel. Trotzdem froren wir.
Rya öffnete den Kofferraum des Kombis und holte ein Eisenwerkzeug hervor, das als Brecheisen und als Schraubenschlüssel zu verwenden war. Sie wog das Ding prüfend in der Hand und erklärte, als sie meinen verständnislosen Blick sah: »Du hast dein Messer, und ich habe jetzt das hier.«
Wir gingen zur Abzweigung zurück. Die Auffahrt war ein schwarzer Tunnel mit Wänden und einer Decke aus Bäumen. Ich hoffte, daß meine Augen sich bald auf diese tiefe Dunkelheit einstellen würden, um einen eventuellen Angreifer rechtzeitig sehen zu können. Vorsichtig folgten wir dem schmalen ungepflasterten Weg, Rya dicht an meiner Seite.
Gefrorene Erde und dünnes Eis knirschten unter unseren Stiefeln.
Der Wind heulte in den Baumwipfeln. Die unteren Äste rauschten und knarrten leise. Der Wald wirkte gespenstisch lebendig.
Der Motor des Streifenwagens war nicht zu hören. Offenbar hatte er irgendwo angehalten.
Nach einigen hundert Metern beschleunigte ich mein Tempo immer mehr, bis ich schließlich rannte, nicht etwa, weil ich jetzt besser sehen konnte — obwohl das der Fall war —, sondern weil ich plötzlich das Gefühl hatte, daß der jungen rothaarigen Frau nicht mehr viel Zeit blieb. Ohne mir Fragen zu stellen, rannte Rya neben mir her.
Die Auffahrt war etwa einen halben Kilometer lang, und als wir schließlich aus dem Baumtunnel auf eine verschneite Lichtung hinaustraten, sahen wir etwa 50 Meter entfernt ein zweistöckiges weißes Holzhaus. Die meisten Fenster im Erdgeschoß waren beleuchtet. Es machte — zumindest bei Nacht — einen gepflegten Eindruck. Auch auf der vorderen Terrasse brannte Licht, so daß man das kunstvoll geschnitzte Geländer mit rokokoartigen Verzierungen deutlich erkennen konnte. Die dunklen Fensterläden waren nicht geschlossen. Eine Rauchwolke stieg aus dem Ziegelkamin und wurde vom Wind westwärts getrieben.
Der Streifenwagen stand vor dem Haus.
Von dem Polizisten und dem Rotschopf war nichts zu sehen.
Keuchend blieben wir am Rand der Lichtung stehen, wo die schwarze Kulisse des Waldes uns unsichtbar machte, falls drüben jemand aus dem Fenster schaute.
Etwa 50 Meter rechts vom Haus war eine große Scheune, die hier im Vorgebirge fehl am Platz wirkte, denn in dieser steilen, felsigen Gegend konnte man unmöglich lohnende Landwirtschaft betreiben. Dann erspähte ich ein großes Schild über dem breiten Scheunentor: KELLYS APFELKELTEREI. Und auf dem verschneiten Hügel hinter dem Haus standen Bäume in ordentlichen Reihen, wie Soldaten bei einer Militärparade: ein Obstgarten.
Ich bückte mich und zog das Messer aus meinem Stiefel.
»Vielleicht solltest du hier warten«, sagte ich zu Rya.
»Blödsinn!«
Ich hatte gewußt, daß sie das sagen würde, und fühlte mich bestärkt durch ihren Mut und ihren Wunsch, auch in gefährlichen Situationen bei mir zu bleiben.
Flink und leise wie Mäuse huschten wir geduckt am Rand der Auffahrt entlang, wo die Wälle aus altem schmutzigem Schnee etwas Sichtschutz boten. In wenigen Sekunden erreichten wir das Haus. Auf dem Rasen mußten wir uns langsamer bewegen, denn die Schneekruste knirschte laut unter unseren Füßen; wenn wir langsam auftraten, ließ sich das Geräusch allerdings auf ein gedämpftes Maß reduzieren, das im Haus höchstwahrscheinlich nicht zu hören war. Jetzt war der grimmig heulende Wind eher unser Verbündeter als unser Feind.
Wir schlichen an der Mauer entlang.
Durch das erste Fenster, wo nur durchsichtige Stores vorgezogen waren, nicht aber die schweren Vorhänge, blickte ich in einen Wohnraum: ein Ziegelkamin, eine Kaminuhr, Möbel im Kolonialstil, polierter Holzboden, Fleckerlteppiche, gestreifte Tapete, Drucke von Grandma Moses an den Wänden.
Durch das nächste Fenster schaute man ebenfalls ins Wohnzimmer.
Ich sah niemanden.
Ich hörte niemanden. Nur den
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