Zwielicht
oft auch als Diebe und sonstige Verbrecher eingestuft. Wie die echten Zigeuner mit Roma-Blut, so genießen auch wir weltweit ein sehr niedriges soziales Ansehen. Man erwirbt einfach nicht zwei oder drei anspruchsvolle Universitätsdiplome, nur um dann eine glänzende akademische Karriere an den Nagel zu hängen und Schausteller zu werden.
Ich beschönigte die Zukunft nicht, die Cathy auf dem Rummelplatz erwarten würde. Ich wollte, daß sie sich über alle Folgen im klaren war, bevor sie einen Entschluß faßte. »Du müßtest das Unterrichten aufgeben, das dir Spaß macht, das akademische Leben, die Karriere, für die du hart gearbeitet hast. Du würdest dich in eine Welt begeben, die dir zunächst fast so exotisch vorkäme wie das alte China. Du würdest bei den Schaustellern durch dein Benehmen und deine Redeweise ständig anecken, und es würde vielleicht ein Jahr oder noch länger dauern, bis du ihr Vertrauen gewinnst. Deine Freunde und Verwandten würden dich nie verstehen und deine Entscheidung nie akzeptieren. Du würdest ein schwarzes Schaf sein. Möglicherweise würde dein gesellschaftlicher Abstieg deinen Eltern sogar das Herz brechen.«
»Ja«, fuhr Rya fort, »aber beim Sombra Brothers Carnival kannst du sicher sein, daß sich unter deinen Nachbarn und Freunden keine Trolle befinden. Viele von uns sind Außenseiter, weil wir die Trolle sehen können, und der Rummelplatz ist unser Zufluchtsort. Wenn einer der Unholde sich bei uns einzuschleichen versucht, machen wir kurzen Prozeß mit ihm. Du wärst also in Sicherheit. Und anfangs könntest du deinen Lebensunterhalt verdienen, indem du für mich und Slim arbeitest.«
»Und mit der Zeit«, sagte ich, »hättest du genügend Ersparnisse, um eine eigene Konzession erwerben zu können.«
»Ja«, ergriff Rya wieder das Wort. »Du würdest auf jeden Fall wesentlich mehr verdienen als mit deinem Unterrichten. Und mit der Zeit... Weißt du, du wirst die bürgerliche Welt, aus der du kommst, vergessen. Sie wird dir allmählich wie ein Traum vorkommen, aber wie ein schlechter Traum.« Sie legte eine Hand auf Cathys Arm, beruhigend, von Frau zu Frau.
»Ich verspreche dir, sobald du dich richtig eingelebt hast, wird dir die Außenwelt furchtbar öde vorkommen, und du wirst dich fragen, wie du dich da draußen jemals wohl fühlen und glauben konntest, dieses Leben wäre der Welt des fahrenden Volkes vorzuziehen.«
Cathy nagte an ihrer Unterlippe. »O Gott...« murmelte sie.
Ihr altes Leben konnten wir ihr nicht zurückgeben; deshalb gaben wir ihr das einzige, was uns zur Verfügung stand: Zeit. Zeit zum Nachdenken.
Einige Autos fuhren an uns vorbei. Nicht viele. Es war spät. Die Nacht war dunkel — und kalt.
Die meisten Leute saßen zu Hause an der warmen Heizung oder lagen schon im Bett.
»O Gott, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll«, flüsterte Cathy verstört und unschlüssig.
Die Auspuffgase trieben am Fenster des Autos entlang. Einen Augenblick konnte ich nur diesen wirbelnden silbrigen Nebel sehen, aus dem mich ständig wechselnde, gespenstische Gesichter hungrig anzustarren schienen.
Gibtown, Joel und Laura Tuck und meine anderen Schaustellerfreunde schienen plötzlich sehr weit entfernt zu sein, viel weiter als Florida, weiter noch als die dunkle Seite des Mondes.
»Ich bin völlig durcheinander«, sagte Cathy. »Verwirrt und verängstigt. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«
In Anbetracht der Tatsache, daß sie nach den schrecklichen Ereignissen dieses Abends nicht zusammengebrochen war, sondern sich schnell von dem Schock erholt hatte, war ich der Ansicht, daß sie zu uns auf den Rummelplatz gehörte. Sie war keine lebensfremde Professorin. Sie besaß ungewöhnliche Kraft und ungewöhnlichen Mut, und starke Menschen konnten wir gut gebrauchen — besonders dann, falls wir den Krieg gegen die Trolle eines Tages ausweiten würden. Ich spürte, daß Rya ebenfalls dieser Meinung war, daß sie hoffte, Cathy Osborn würde sich uns anschließen. »Ich... weiß... es nicht...«
Zwei der drei Schlafzimmer in unserem gemieteten Haus waren möbliert, und Cathy übernachtete in einem davon. Sie war noch außerstande, eine Entscheidung zu treffen. Die Vorstellung, ihre Karriere und ihr vertrautes Leben aufzugeben, auch wenn noch so einleuchtende Gründe dafür sprachen, war ihr schier unerträglich.
»Morgen früh werde ich mich entscheiden können«, versprach sie.
Ihr Zimmer war ein Stück von unserem entfernt. Sie bestand darauf,
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