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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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völlig abgingen. Joel Tuck hätte ein solcher Roboter sein können, ein makabrer Scherz der Konstrukteure von Disneyland, um Onkel Walt einen Schrecken einzujagen.
    Gott möge mir meine Unsensibilität verzeihen, aber ich ging gedankenlos davon aus, daß diese groteske Gestalt auch in ihrem Denken und in ihren Worten grotesk sein müßte.
    Stattdessen hörte ich: »Schausteller sind sich ihrer Tradition von Toleranz und Brüderlichkeit stets bewußt, aber manchmal kann einem ihre Diplomatie auch auf die Nerven gehen. Du hingegen hast genau richtig reagiert. Nicht mit morbider Neugier, blasierter Überlegenheit oder falschen Mitleidsbekundungen wie die allermeisten Besucher. Aber auch nicht mit übertriebenem Gleichmut wie die meisten Schausteller, die so tun, als sähe ich wie jedermann aus. Du warst verständlicherweise ziemlich schockiert und hast dich deiner natürlichen Reaktionen nicht geschämt: ein wohlerzogener Junge, der sich aber eine gesunde Neugier und einen sympathischen Freimut bewahrt hat — so sehe ich dich, Slim MacKenzie, und ich freue mich, deine Bekanntschaft gemacht zu haben.«
    »Ich ebenfalls.«
    Daß er meine Reaktionen und Motive so großmütig beurteilte, trieb mir nur noch mehr die Schamröte ins Gesicht, aber er tat so, als bemerkte er das nicht.
    »Na, ich muß jetzt weiter«, sagte er. »Wir öffnen um elf, und vorher muß ich noch ein bißchen nach dem Rechten sehen. Übrigens verlasse ich das Zelt nie, ohne mein Gesicht zu verhüllen, wenn die Besucher sich hier tummeln. Es wäre nicht richtig, jemandem meine Fratze zuzumuten, der sie nicht sehen will. Außerdem habe ich keine Lust, mich von dem Pack gratis anstarren zu lassen.«
    »Dann also bis später«, erwiderte ich und betrachtete unwillkürlich wieder sein drittes Auge, das plötzlich zuckte, fast so, als zwinkere es mir zu.
    Er machte zwei Schritte, wobei er mit seinen riesigen Schuhen kleine weiße Staubwolken aufwirbelte. Dann drehte er sich noch einmal nach mir um und fragte nach kurzem Zögern: »Was erwartest du vom Rummelplatz, Slim MacKenzie?«
    »Äh... von diesem Rummelplatz im besonderen?«
    »Vom Leben im allgemeinen.«
    »Nun... einen Platz zum Schlafen.«
    »Den bekommst du hier.«
    »Drei anständige Mahlzeiten am Tag.«
    »Auch das.«
    »Taschengeld.«
    »Es wird bald mehr als nur ein Taschengeld sein. Du bist jung, flink und intelligent, das sehe ich. Du wirst gute Arbeit leisten. Was noch?«
    »Was ich mir sonst noch wünsche?«
    »Genau.«
    Ich seufzte. »Anonymität.«
    »Aha.« Sein Gesicht verzog sich zu einem verschwörerischen Lächeln oder zu einer Grimasse; was diese mißgestalteten Züge auszudrücken versuchten, war nicht immer leicht zu entscheiden. Sein Mund war leicht geöffnet und entblößte die schiefen Zähne, die wie Pfähle eines verwitterten alten Zaunes aussahen. Er betrachtete mich aufmerksam, so als überlegte er, ob er weiter in mich dringen oder mir seinen Rat anbieten sollte, aber er war ein viel zu taktvoller Schausteller, um jemanden durch indiskrete Fragen in Verlegenheit zu bringen. Deshalb murmelte er nur noch einmal: »Aha.«
    »Einen Zufluchtsort«, fuhr ich unaufgefordert fort, weil ich plötzlich direkt hoffte, daß er in mich dringen würde, weil ich mit einem Male das verrückte Bedürfnis verspürte, mich ihm anzuvertrauen und ihm von den Trollen zu erzählen, speziell von Onkel Denton. In den zurückliegenden Monaten, seit jenem ersten Mord an einem Unhold, hatte ich unter ständiger Anspannung gelebt und meiner ganzen Willenskraft und Nervenstärke bedurft, um mich durchzuschlagen. Während dieser ganzen Zeit hatte ich keinen einzigen Menschen getroffen, der in einer so heißen Glut wie ich gestählt zu sein schien. Doch nun spürte ich, daß ich in Joel Tuck einen Mann gefunden hatte, dessen Leiden, dessen Seelenpein und Einsamkeit viel größer waren als die meinigen. Er mußte zeit seines Lebens Schreckliches durchgemacht haben, aber er war ein Mensch, der das Unakzeptable mit ungewöhnlicher Kraft und Würde akzeptiert hatte. Hier war jemand, der verstehen könnte, was es bedeutete, ständig in einem Alptraum zu leben. Trotz seines grauenvollen Gesichts hatte er etwas Väterliches an sich, und ich verspürte den Wunsch, mich ihm an die Brust zu werfen, mich endlich einmal richtig auszuweinen und ihm sodann von den dämonischen Wesen zu berichten, die sich ungesehen auf der Erde herumtrieben. Aber Selbstbeherrschung war mein kostbarster Besitz, Mißtrauen war eine

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