Zwielicht
unabdingbare Voraussetzung im Kampf ums Überleben, und deshalb brachte ich es doch nicht über mich zu reden und wiederholte nur leise: »Einen Zufluchtsort.«
»Einen Zufluchtsort«, sagte er. »Ich glaube, auch den wirst du hier finden. Zumindest hoffe ich es, denn ich glaube, daß du ihn brauchst, Slim MacKenzie. Ich glaube, daß du ihn verdammt nötig hast.«
Diese Bemerkung, die so gar nicht zu unserer übrigen kurzen Unterhaltung paßte, versetzte mir einen gewaltigen Schock.
Wir starrten einander schweigend an.
Diesmal schaute ich in seine beiden normalen Augen, und ich glaubte, Mitgefühl darin zu lesen.
Doch obwohl dieser Mann unverkennbar Wärme ausstrahlte, verrieten meine empfindlichen psychischen Antennen mir gleichzeitig, daß er nicht leicht zu durchschauen war, und ich hatte das unangenehme Gefühl, daß hinter ihm viel mehr steckte, als man zunächst glaubte — daß er vielleicht sogar irgendwie gefährlich sein könnte.
Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken, aber mir war nicht klar, ob ich mich nun vor ihm oder vor etwas, das ihm zustoßen würde, fürchten mußte.
Unser stummer Kontakt zerriß wie ein dünner Faden — abrupt, aber völlig undramatisch.
»Bis später«, sagte er.
»Ja«, murmelte ich mit trockenem Mund. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und mehr als dieses Wörtchen hätte ich nicht hervorgebracht.
Er entfernte sich, und ich blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war — so wie der Mechaniker Rudy Morton mir vorhin nachgeschaut hatte.
Wieder überlegte ich, ob ich diesen Rummelplatz verlassen und nach einem anderen — weniger verwirrenden und weniger ominösen — Aufenthaltsort suchen sollte. Aber ich war völlig abgebrannt, ich brauchte ein Zuhause — und dank meiner hellseherischen Fähigkeiten wußte ich auch, daß man seinem Schicksal nicht entrinnen kann, so sehr man es sich auch wünschen mag.
Außerdem konnte man es beim Sombra Brothers Carnival als abnormes Wesen offenbar recht gut aushalten. Joel Tuck und ich...
Abnorm alle beide.
6 - Tochter der Sonne
Die Verwaltung war in drei farbenprächtigen Wohnwagen untergebracht — weiß mit leuchtenden Regenbogenmustern. Sie waren quadratisch angeordnet, wobei die Vorderseite des Quadrats fehlte. Ein transportabler Pfahlzaun umgab diesen Bezirk. Mr. Timothy ›Jelly‹ Jordan hatte sein Büro im linken langen Wagen, wo auch der Buchhalter und die Frau, die allmorgendlich Rollen mit Eintrittskarten verteilte, arbeiteten.
Ich wartete eine halbe Stunde in dem schlichten Raum mit Linoleumboden, wo der kahlköpfige Buchhalter, Mr. Dooley, einen Stapel Papiere sortierte. Zwischendurch bediente er sich immer wieder aus einer Schüssel mit Rettichscheiben, Peperoni und schwarzen Oliven. Würzige Atemgerüche erfüllten das Zimmer, was allerdings niemanden, der hereinkam, zu stören schien — offenbar bemerkten sie es nicht einmal.
Ich rechnete fast damit, daß jemand hereinstürzen und aufgeregt berichten würde, daß ein Schausteller vermißt werde oder gar in der Nähe des Autoskooters tot aufgefunden worden sei, und dann würden sich alle Blicke auf mich richten, weil ich ein Außenseiter war, ein Neuankömmling, was mich von vornherein verdächtig machte. Sie würden mir die Schuld bestimmt am Gesicht ablesen können... Aber niemand schlug Alarm.
Schließlich wurde nur mitgeteilt, daß Mr. Jordan mich jetzt empfangen könne, und als ich sein Büro im hinteren Teil des Wohnwagens betrat, sah ich sofort, woher er seinen Spitznamen Jelly — Gelee — hatte. Er war höchstens 1,77 m groß, fast 20 cm kleiner als Joel Tuck, aber er mußte genausoviel wie dieser wiegen, mindestens 270 Pfund.
Er hatte ein Puddingsgesicht, eine runde Nase, die Ähnlichkeit mit einer hellen Pflaume hatte, und ein wabbeliges Kinn.
Als ich ins Zimmer trat, fuhr auf der Schreibtischplatte ein Spielzeugauto im Kreis, ein kleines Kabriolett mit vier winzigen Clowns als Insassen, die abwechselnd aufsprangen und wieder Platz nahmen.
Mr. Jordan zog ein weiteres Spielzeug auf. »Schauen Sie sich das einmal an! Ich hab's erst gestern bekommen. Es ist fantastisch. Einfach fantastisch.«
Er stellte es auf den Schreibtisch, und nun konnte ich sehen, daß es ein Metallhund war, der auf der Platte langsam Purzelbäume schlug. Mr. Jordan beobachtete ihn mit begeistert leuchtenden Augen.
Ich schaute mich in dem Büro um: überall Spielzeug. Ein großes Wandregal enthielt keine Bücher, sondern eine bunte Sammlung kleiner
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