Zwielicht
anständiger, sensibler Charakter, ein liebenswerter Mensch.«
»Oh, du hast völlig recht. Mich überrascht nicht deine Einschätzung, sondern nur die Tatsache, daß du ihre hartgesottene Fassade so schnell durchschaut hast. Die meisten Leute nehmen sich nicht die Zeit, ihre sympathischen Seiten zu entdecken, weil sie vorher durch ihre schroffe Art abgeschreckt werden.«
Ich freute mich, daß er meine vagen psychischen Eindrücke bestätigte. Sie sollte nett sein. Unter der Eisschicht sollte sich ein guter Mensch verbergen, ein Mensch, dessen Bekanntschaft erstrebenswert war. Verdammt, ich begehrte sie, und ich wollte kein Luder begehren.
»Dooley hat eine Unterkunft für dich gefunden«, berichtete Jelly. »Du solltest gleich einziehen, solange du noch frei hast.«
»Das tu' ich.«
Ich fühlte mich noch großartig, während ich mich von ihm abwandte, doch dann sah ich aus dem Augenwinkel heraus etwas, das mich mit Entsetzen erfüllte. Ich drehte mich hastig um, in der Hoffnung, mir nur eingebildet zu haben, was ich soeben zu sehen geglaubt hatte, aber es war keine Einbildung gewesen; es war noch da. Blut. Jelly Jordans ganzes Gesicht war blutüberströmt. Kein richtiges Blut, verstehen Sie? Er schob sich gerade das letzte Stück Krapfen in den Mund, er war unverletzt und hatte keine Schmerzen. Was ich sah, war eine Vision, eine Vorahnung zukünftiger Gewaltanwendung. Nein, nicht nur eine Schlägerei oder dergleichen. Jellys lebendiges Gesicht war überlagert von einer Vision seines toten Gesichtes, mit weit aufgerissenen gebrochenen Augen und blutbeschmierten Wangen. Er steuerte im Zeitstrom nicht nur auf eine Verletzung zu, sondern auf einen gewaltsamen Tod.
Er blinzelte. »Ist was?«
»Äh...«
Die Vision verblaßte.
»Fehlt dir was, Slim?«
Die Vision verschwand.
Ich konnte es ihm nicht erzählen. Er würde mir höchstwahrscheinlich keinen Glauben schenken. Und selbst wenn es mir gelänge, ihn zu überzeugen — ich konnte die Zukunft nicht ändern.
»Slim?«
»Nein«, murmelte ich. »Mir fehlt nichts. Es ist nur...«
»Na?«
»Ich wollte mich nur noch einmal bedanken.«
»Verdammt, Junge, du bist viel zu dankbar. Ich kann sabbernde Hündchen nicht ausstehen.« Er setzte eine finstere Miene auf. »Und jetzt sieh zu, daß du mir aus den Augen kommst!«
Ich zögerte. Um meine Verwirrung und Angst zu überspielen, sagte ich keck: »Ist das Ihre Imitation von Rya Raines?«
Er grinste mir zu. »Ja. Wie war's?«
»Hörte sich bei weitem nicht unfreundlich genug an.«
Er lachte herzhaft, als ich ihn verließ. Ich versuchte mir einzureden, daß meine Vorahnungen sich nicht immer als wahr erwiesen — obwohl das der Fall war —, daß er jedenfalls auf keinen Fall bald sterben würde — obwohl ich spürte, daß er sehr bald sterben würde —, und daß ich, falls ihm doch bald Gefahr drohte, bestimmt etwas tun konnte, um seinen Tod zu verhindern.
Irgendetwas.
Bestimmt...
7 - Nächtlicher Besucher
Gegen Mitternacht war auf dem Rummelplatz nicht mehr allzuviel Betrieb, und manche Schausteller schlossen schon ihre Buden oder Fahrgeschäfte. Ich ließ den ›Lukas‹ aber bis halb eins geöffnet und konnte noch ein paar letzte Dollar ergattern, denn mir lag viel daran, an meinem ersten Arbeitstag hohe Einnahmen vorweisen zu können. Als ich mich schließlich auf den Weg zu der Wiese hinter dem Jahrmarktgelände machte, wo die Wohnwagen standen, war es einige Minuten nach eins.
Hinter mir gingen die letzten Lichter im Vergnügungspark aus, fast so, als wäre der ganze Aufwand nur für mich betrieben worden.
Fast dreihundert Wohnwagen waren in ordentlichen Reihen auf der weiten Fläche aufgestellt, die an Wälder grenzte. Die meisten dieser Wagen gehörten den Konzessionären und ihren Familien, aber einige Dutzend waren Eigentum der Sombra Brothers und wurden an Schausteller wie mich vermietet, die keine andere Unterkunft hatten. Diese Wagenburg hieß bei manchen Insidern ›Gibtown-auf-Rädern‹. Im Winter, wenn es keine Jahrmärkte gab, zogen die meisten Schausteller in den Süden, nach Gibsonton in Florida — liebevoll Gibtown genannt —, wo ausschließlich fahrendes Volk lebte. Gibtown war ihr Hafen, ihr sicherer Zufluchtsort, der einzige Platz auf der Welt, wo sie sich wirklich zu Hause fühlten. Von Mitte Oktober bis Ende November strömten sie aus allen Landesteilen herbei. Dort unten im sonnigen Florida besaßen sie entweder hübsch gelegene Grundstücke für ihre Wohnwagen oder
Weitere Kostenlose Bücher