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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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in ein paar Jahren vielleicht sogar der beste Entertainer der ganzen Truppe werden. Bob Weyland, der Inhaber des Karussells, ist ein bißchen besorgt, weil seine Tochter dich einfach himmlisch findet und schon erklärt hat, daß sie stirbt, wenn du keine Notiz von ihr nimmst. Sie ist sechzehn, heißt Tina und ist durchaus sehenswert. Und Madame Zena — alias Mrs. Pearl Yarnell aus der Bronx —, unsere Zigeuner-Wahrsagerin, behauptet, du seist im Zeichen des Stiers geboren und fünf Jahre älter als du aussiehst. Sie meint außerdem, daß du eine tragische Liebesgeschichte zu vergessen versuchst.«
    Es überraschte mich nicht, daß eine ganze Anzahl von Schaustellern mich am ›Lukas‹ in Augenschein genommen hatte. Dies war eine enge Gemeinschaft, und ich war ein Neuer, den man erst ein bißchen beschnüffeln mußte. Etwas unangenehm war mir nur Tina Weylands Schwärmerei, wohingegen mich Madame Zenas Erkenntnisse sehr amüsierten.
    »Nun, Irma«, sagte ich, »mein Sternzeichen ist tatsächlich Stier, aber bisher hat mir noch kein Mädchen das Herz gebrochen — und wenn Mrs. Frazelli eine halbwegs gute Köchin ist, kannst du ihr gern erzählen, daß ich mich jede Nacht in den Schlaf weine, wenn ich nur an hausgemachtes Essen denke.«
    »Du bist auch bei mir herzlich willkommen«, meinte Irma lächelnd. »Dann kannst du auch Paulie, meinen Mann, kennenlernen. Komm doch am Sonntagabend so gegen acht. Bis dahin sind wir bei der nächsten Station auf unserer Tour mit Aufbauen bestimmt fertig. Ich mache dir ein Chilihähnchen und zum Nachtisch meine berühmte Schwarzwälder Torte.«
    »Ich komme sehr gern«, sagte ich wahrheitsgetreu.
    Meiner Erfahrung nach sind von allen Schaustellern die Zwerge am schnellsten bereit, einen Fremden zu akzeptieren, ihn mit offenen Armen aufzunehmen, ihm zu vertrauen und ein warmes Lächeln zu schenken. Anfangs hatte ich vermutet, daß ihre Freundlichkeit gegen jedermann mit ihrer Kleinwüchsigkeit zusammenhing, daß sie freundlich sein mußten, um nach Möglichkeit alle Kämpfe mit Rowdies und Trunkenbolden zu vermeiden, bei denen sie von vornherein keine Chance hätten. Doch als ich mit der Zeit einige der kleinen Leute besser kennenlernte, wurde mir allmählich klar, daß meine allzu einfache Erklärung ihres extravertierten Charakters ihnen nicht gerecht wurde. Als Gruppe — und oft auch als Einzelperson — sind Zwerge durchaus selbstsicher, besitzen Selbstvertrauen und einen starken Willen. Sie fürchten sich vor dem Leben auch nicht mehr als Menschen normaler Größe. Ihre Weltoffenheit hat andere Ursachen, nicht zuletzt ihr durch Leiden erworbenes Mitgefühl. Aber damals, in Ryas Wohnwagen, war ich noch sehr jung und hatte von der Psychologie der Zwerge wenig Ahnung.
    Damals verstand ich auch Rya nicht, aber die grundverschiedenen Temperamente der beiden Frauen fielen mir doch ins Auge. Irma war warm und kontaktfreudig, während Rya kühl und introvertiert blieb. Irma hatte ein sehr sympathisches Lächeln, das sie oft einsetzte, während Rya mich aus ihren kristallblauen Augen, denen nichts entging, nüchtern musterte, ohne die Miene zu verziehen.
    Wie sie so im Lehnstuhl saß, ein Bein ausgestreckt, das andere angewinkelt, war Rya der Inbegriff aller Träume eines jungen Mannes. Sie trug weiße Shorts und ein hellgelbes T-Shirt. Ihre sonnengebräunten Beine waren perfekt geformt — schmale Knöchel, geschwungene Waden, glatte Knie und straffe Oberschenkel. Ich hätte am liebsten meine Hände an diesen Beinen entlanggleiten lassen, bis zur festen Muskulatur der Oberschenkel. Stattdessen schob ich die Hände hastig in die Geldschürze, damit Rya nicht sah, daß sie zitterten. Ihr von der Augusthitze etwas feuchtes T-Shirt klebte verführerisch an den vollen Brüsten, und ich konnte durch die dünne Baumwolle hindurch sogar ihre Brustwarzen sehen.
    Der Kontrast zwischen Rya und Irma war beklemmend — hier genetischer Triumph, dort genetisches Chaos. Entgegengesetzte Endsprossen an der Leiter der biologischen Fantasie. Rya Raines hätte als Modell für die vollkommene Frau dienen können — Perfektion der Linien und Formen, realisierter Traum, erfüllte Verheißung der Natur. Irma hingegen erinnerte daran, daß der Natur trotz kompliziertester Mechanismen und jahrtausendelanger Praxis nur selten die Aufgabe gelang, die Gott ihr gestellt hatte: Erschaffe sie als Meine Ebenbilder. Wenn die Natur eine Erfindung Gottes war, ein von Gott inspirierter Mechanismus, wie meine

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