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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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glaubte ich beides wahrzunehmen, und deshalb öffnete ich mich ihm nicht so, wie ich es andernfalls vielleicht getan hätte.
    »Was hältst du von dem Mädchen?« wollte er von mir wissen.
    »Von welchem Mädchen?«
    »Gibt es denn ein anderes?«
    »Du meinst... Rya Raines?«
    »Magst du sie?«
    »Na klar. Sie ist in Ordnung.«
    »Ist das alles?«
    »Was denn sonst?«
    »Frag mal so gut wie jeden Mann auf diesem Rummelplatz, was er von Miß Rya Raines hält, und er wird eine halbe Stunde von ihrem Gesicht und Körper schwärmen, eine weitere halbe Stunde über ihr Wesen meckern und dann wieder ins Schwärmen geraten. Aber keiner wird einfach sagen: ›Sie ist in Ordnung‹ und Punktum.«
    »Sie ist nett.«
    »Du bist in sie verknallt«, stellte er trocken fest.
    »Oh... nein... Nein. Ich doch nicht«, protestierte ich.
    »Blödsinn!«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    Sein orangefarbenes Auge fixierte mich mit blindem, aber nichtsdestotrotz durchdringendem Blick, während er mit den beiden normalen Augen rollte. »Ach, nun komm schon, natürlich bist du verknallt. Vielleicht steht es sogar noch schlimmer, vielleicht schwebst du in Gefahr, dein Herz an sie zu verlieren.«
    »Sie ist doch älter als ich«, murmelte ich verlegen.
    »Nur um einige Jahre.«
    »Aber immerhin ist sie älter.«
    »Und was Erfahrung, Geist und Intelligenz betrifft, bist du deinen Lebensjahren weit voraus und kannst es ohne weiteres mit ihr aufnehmen. Versuch nicht, es zu leugnen, Slim MacKenzie. Du bist verknallt. Gib es zu.«
    »Na ja, sie ist sehr schön.«
    »Und darunter?«
    »Häh?«
    »Und darunter?« wiederholte er.
    »Willst du wissen, ob sie auch unter der Hautoberfläche schön ist?«
    »Ist sie es?«
    Überrascht über sein Talent, mich auszufragen, sagte ich: »Nun, sie will, daß man sie für kalt und hartgesotten hält... aber in Wirklichkeit... in Wirklichkeit hat sie Eigenschaften, die genauso anziehend sind wie ihr Gesicht.«
    Er nickte. »Da stimme ich dir völlig zu.«
    Eine Gruppe lachender Besucher näherte sich langsam.
    Joel beugte sich auf seinem Stuhl vor und redete etwas schneller, um die letzten Augenblicke unseres Alleinseins auszunutzen. »Aber weißt du... sie ist auch schwermütig.«
    Ich dachte an die düstere Stimmung, der ich sie in der vergangenen Nacht überlassen hatte, an die herzzerreißende Einsamkeit und Verzweiflung, die sie in die Tiefe zu ziehen schienen. »Ja, dessen bin ich mir bewußt. Ich weiß nicht, woher diese Schwermut kommt oder was sie zu bedeuten hat, aber ich spüre sie deutlich.«
    »Denk mal über etwas nach«, sagte er, zögerte dann aber weiterzureden.
    »Worüber denn?« hakte ich nach.
    Er starrte mich so intensiv an, daß ich geneigt war zu glauben, er versuchte bis auf den Grund meiner Seele zu schauen. Dann sagte er seufzend: »Ihre Oberfläche ist so unglaublich schön, und auch darunter verbirgt sich Schönheit, da stimmen wir beide völlig überein... aber ist es möglich, daß unter dem ›Darunter‹, das du sehen kannst, eine weitere Schicht verborgen ist?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß sie sich verstellt.«
    »Oh, das tun wir alle, mein junger Freund! Manche von uns täuschen die ganze Welt, jeden einzelnen Mitmenschen, dem sie begegnen. Andere täuschen nur bestimmte Personen — Ehefrauen, Geliebte, Mütter und Väter. Und wieder andere täuschen nur sich selbst. Aber keiner von uns ist jemals in allen Dingen total ehrlich. Verdammt, die Notwendigkeit, sich zu verstellen, gehört zu den Flüchen, mit denen unsere erbärmliche Spezies nun einmal leben muß.«
    »Was versuchst du mir über Rya zu erzählen?« fragte ich.
    »Nichts«, antwortete er. Die Anspannung wich plötzlich von ihm, und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Nichts.«
    »Warum sprichst du immer in Rätseln?«
    »Ich?«
    »Ja.«
    »Ich wüßte nicht, daß ich das täte«, sagte er mit der unergründlichsten Miene, die ich je bei einem Menschen gesehen hatte.
    Die Besucher waren jetzt bei der zwölften Box angelangt — zwei Pärchen Anfang Zwanzig, die Mädchen mit hochtoupierten Haaren und zuviel Make-up, die Burschen in karierten Hosen und schreiend bunten Hemden, ein Quartett von aufgetakelten Provinzlern. Eines der Mädchen — ein ziemlich plumpes Ding — kreischte erschrocken, als es Joel Tuck sah. Das andere Mädchen quiekte, um nicht hinter der Freundin zurückzustehen, und die Männer legten schützend einen Arm um die Frauen, so als bestünde die Gefahr, daß Joel

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