Zwielicht
Tuck sich auf sie stürzen würde, Vergewaltigung oder Kannibalismus im Sinn.
Während die jungen Leute ihre Kommentare abgaben, vertiefte sich Joel wieder in sein Buch und ignorierte ihre Fragen. Seine Haltung strahlte soviel Würde aus, daß sogar die Besucher dies spürten und eingeschüchtert verstummten.
Eine weitere Gruppe näherte sich. Ich blieb noch einen Moment stehen, beobachtete Joel und atmete die Gerüche von sonnenerhitzter Leinwand, Sägemehl und Staub ein. Dann glitt mein Blick wieder zu jenem Stück Erde zwischen Seil und Plattform, und wieder empfing ich Eindrücke von Verwesung und Tod, aber ich konnte beim besten Willen nicht präzisieren, was diese düsteren Vibrationen zu bedeuten hatten. Nur hatte ich noch immer das wenig angenehme Gefühl, daß diese Erde mit einem Spaten umgegraben werden würde, um mir als Grab zu dienen.
Ich wußte, daß ich zurückkommen würde, wenn der Rummelplatz geschlossen war, wenn alle Besucher fort waren, wenn das Zelt leer war. Ich würde mich hierherschleichen, um diese ominöse Stelle näher in Augenschein zu nehmen, um meine Hände auf den Boden zu pressen, in der Hoffnung, der hier konzentrierten psychischen Energie eine konkretere Warnung entlocken zu können. Ich mußte mich gegen die drohende Gefahr wappnen, und das war nur möglich, wenn ich wußte, worin diese Gefahr bestand.
Als ich das Zelt verließ und auf die Straße hinaustrat, hatte das Zwielicht genau die Farbe meiner Augen.
Da es der vorletzte Abend des Jahrmarktes und zudem ein Freitag war, blieben die Besucher länger, und der Rummelplatz schloß später als in der Nacht zuvor. Es war fast halb zwei, als ich die Teddybären endlich wegräumte und mich auf den Weg zu Ryas Wohnwagen machte, beladen mit Münzen, die bei jedem Schritt klirrten.
Dünne zerzauste Wolken wurden vom Mond angestrahlt, so daß ihre Spitzenränder wie reinstes Silber glänzten. Der Nachthimmel glich dadurch einer kunstvollen Filigranarbeit.
Rya hatte mit ihrem übrigen Personal schon abgerechnet und wartete auf mich. Sie war ähnlich wie am Vorabend gekleidet: hellgrüne Shorts, weißes T-Shirt, kein Schmuck. Sie brauchte auch keinen Schmuck, denn ihre Schönheit blendete mehr als jedes Diamantkollier.
Sie war in einer wenig mitteilsamen Stimmung, öffnete den Mund nur, wenn sie angesprochen wurde, und gab auch dann einsilbige Antworten. Sie legte das Geld in einen Wandsafe und zahlte mir einen halben Tageslohn aus, den ich in meine Jeanstasche schob.
Während der Abrechnung hatte ich sie aufmerksam betrachtet, nicht nur, weil sie hinreißend aussah, sondern auch, weil ich die Vision der letzten Nacht nicht vergessen konnte, als mir eine blutige Rya erschienen war und mich angefleht hatte, sie nicht sterben zu lassen. Ich hoffte, daß meine hellseherischen Fähigkeiten durch die Gegenwart der realen Rya stimuliert würden, daß ich detailliertere Vorahnungen haben würde, die mich befähigten, sie vor einer ganz speziellen Gefahr zu warnen. Aber das einzige, was ich in ihrer Nähe spürte, war die Aura ihrer tiefen Schwermut — und sexuelle Erregung.
Ich hätte meinen Aufbruch liebend gern unter irgendeinem Vorwand noch ein wenig hinausgezögert, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein, und so wandte ich mich mit einem »Gute Nacht« zur Tür.
»Morgen wird viel los sein«, sagte sie, als ich auf der Schwelle stand.
Ich drehte mich um. »Samstags ist immer viel los.«
»Und morgen abend ist Kehraus — alles wird abgebaut.«
Und am Sonntag würden wir in Yontsdown alles wieder aufbauen, doch daran wollte ich jetzt lieber nicht denken.
»Samstags gibt es immer soviel zu tun, daß ich freitags sehr schlecht einschlafe.«
Ich vermutete, daß sie — wie ich — meistens Probleme mit dem Einschlafen hatte und oft unausgeruht aufwachte, selbst wenn sie einige Stunden Schlaf fand.
»Ich weiß, was du meinst«, murmelte ich unbeholfen.
»Spazierengehen hilft ein wenig«, fuhr sie fort. »Manchmal gehe ich in der Nacht von Freitag auf Samstag hinüber zum dunklen Rummelplatz und drehe dort meine Runden, um die überschüssige Energie loszuwerden und die Stille auf mich wirken zu lassen. Es ist ein friedlicher Ort, wenn alles geschlossen ist, wenn die Besucher fort sind und keine Lichter mehr brennen. Aber es gibt noch etwas Besseres: Wenn das Jahrmarktsgelände sich wie hier auf freiem Feld befindet, laufe ich durch die Wiesen und sogar durch Wälder, sofern es einen Weg oder einen guten Pfad gibt — und
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