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Zwielicht

Zwielicht

Titel: Zwielicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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ging zum Eingang, wo die Zeltbahnen für die Nacht heruntergelassen und befestigt waren.
    Zitternd entknotete ich eine Schnur.
    Zitternd betrat ich das Zelt.

10 -  Das Grab
     
    Feuchte Dunkelheit.
    Ein Geruch von leicht moderiger Leinwand.
    Sägespäne.
    Ich stand ganz still und lauschte angespannt. In dem großen, in Boxen unterteilten Zelt herrschte Grabesstille; aber das Zelt hatte die besondere Resonanz einer riesigen Muschel, so daß ich die Blutzirkulation in meinen Ohren wie Meeresrauschen hören konnte.
    Trotz der Stille und trotz der nachtschlafenden Stunde hatte ich das unangenehme Gefühl, nicht allein zu sein.
    Ich bückte mich und zog das Messer aus meinem Stiefel.
    Dadurch fühlte ich mich aber auch nicht sicherer. Das Messer würde mir nur wenig nützen, wenn ich in der undurchdringlichen Finsternis nicht sehen konnte, aus welcher Richtung der Angriff erfolgte.
    Die Abnormitätenschau hatte ihren Standplatz am Rande des Rummelplatzes, in der Nähe der öffentlichen Stromleitungen des Jahrmarktsgeländes; deshalb war die Beleuchtung nicht von Generatoren abhängig, und ich brauchte keinen Dieselmotor einzuschalten, um Licht zu machen. Ich tastete links und rechts vom Eingang nach einem Schalter oder einem von der Decke herabhängenden Kabel.
    Das Gefühl einer drohenden Gefahr wurde stärker.
    Jede Sekunde konnte der Angriff erfolgen.
    Wo, zum Teufel, war dieser verdammte Lichtschalter?
    Endlich fand ich einen dicken Holzpfahl, um den sich ein flexibles, segmentiertes Stromkabel ringelte.
    Ich hörte keuchende Atemzüge.
    Ich erstarrte.
    Lauschte.
    Nichts.
    Dann wurde mir klar, daß es meine eigenen Atemzüge gewesen waren, und ich kam mir so töricht vor wie ein Kind, das stundenlang wachgelegen hat, weil es sich vor dem Ungeheuer unter dem Bett fürchtet, dann endlich allen Mut zusammennimmt, nachschaut und feststellen muß, daß dort kein Monster lauert oder, schlimmstenfalls, daß es sich bei dem Monster um ein Paar alte eingestaubte Turnschuhe handelt.
    Trotzdem wurden meine hellseherischen Vorahnungen einer drohenden Gefahr nicht schwächer, ganz im Gegenteil. In der feuchten, muffigen Luft schien sich die Bedrohung zu verdichten.
    Ich tastete mit zittrigen Fingern am Stromkabel entlang, stieß auf eine Anschlußdose, fand den Lichtschalter. Über dem Gang für die Besucher und in den Boxen leuchteten nackte Glühbirnen auf.
    Mit dem Messer in der Hand ging ich vorsichtig von einem Raum zum anderen, bis ich vor der zwölften Box stand, wo Joel Tuck seinen Platz hatte. Es fehlte nicht viel, und mir hätten die Haare zu Berge gestanden, so stark war die Luft hier mit tödlicher Gefahr aufgeladen.
    Ich trat bis ans Absperrseil heran.
    Das mit Sägespänen bestreute Stück Erde vor der Plattform strahlte ähnlich wie Plutonium, obwohl es sich hier nicht um radioaktive Gammastrahlung handelte. Vielmehr wurde ich von Todesbildern, Todesgerüchen und -geräuschen überflutet, die mit den normalen fünf Sinnen aller Menschen nicht wahrnehmbar sind, die aber der Geigerzähler meines sechsten Sinnes genau registrierte. Was dieses unerklärliche, hochsensible Gerät in meinem Innern aufzeichnete, waren: offene dunkle Gräber; ausgebleichte Knochenberge mit Spinnweben in den leeren Schädelhöhlen; ein Geruch von feuchter, frisch umgegrabener Erde; das schrille Geräusch eines Steindeckels, der von einem Sarkophag gehoben wird; Leichen auf Bahren in einem nach Formaldehyd stinkenden Raum; der süßliche Geruch von Rosen und Nelken, die zu verwesen beginnen; die Dunkelheit eines unterirdischen Grabes; das Dröhnen eines zufallenden hölzernen Sargdeckels; eine kalte Hand, die tote Finger auf mein Gesicht preßte...
    »Mein Gott!« flüsterte ich mit zittriger Stimme.
    Die blitzartigen Impressionen — die größtenteils keine realen Szenen aus meiner Zukunft vorwegnahmen, sondern einfach Todessymbole waren — brachen jetzt mit ungleich größerer Kraft über mich herein als am Nachmittag.
    Ich wischte mir mit der Hand den kalten Schweiß von der Stirn.
    Ich schwang zuerst ein Bein, dann auch das andere über das Seil und betrat die Box, verzweifelt bemüht, mich von dem Sturm hellseherischer Warnungen nicht überwältigen zu lassen. Ich hatte Angst, das Bewußtsein zu verlieren. Das war zwar unwahrscheinlich, aber immerhin war es mir schon einige Male passiert, wenn ich besonders, starken Strömen okkulter Energie ausgesetzt war, und jedesmal war ich Stunden später mit heftigen Kopfschmerzen aufgewacht.

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