Zwielicht
Unschuldige, nicht aber meine Familie.
Ich verließ die Lichtung, zwängte mich wieder durchs Unterholz und gelangte aufs freie Feld. Es duftete nach Goldrute. Auf halbem Wege zum Jahrmarktsgelände merkte ich, daß ich noch immer einen unangenehmen Erdgeschmack im Mund verspürte. Und plötzlich brach der Damm jener segensreichen Betäubung, die mich in der letzten Stunde vor dem Zusammenbruch bewahrt hatte; die schrecklichen Ereignisse brachen in allen Einzelheiten über mich herein, und ich fiel auf Hände und Knie und übergab mich ins Gras.
Als die Übelkeit vorbei war, kroch ich ein Stück beiseite, legte mich auf den Rücken, starrte zum Sternenhimmel empor, atmete tief durch und versuchte, Kräfte zum Weitergehen zu sammeln.
Es war inzwischen vier Uhr fünfzig. In einer Stunde würde die orangefarbene Morgensonne aufgehen.
Mir kam das blicklose orangefarbene Auge auf Joel Tucks Stirn in den Sinn. Joel Tuck... er hatte die Leiche begraben, und das deutete darauf hin, daß er über die Trolle Bescheid wußte und mir helfen wollte.
Und mit größter Wahrscheinlichkeit war er es auch gewesen, der nachts die beiden Freikarten — eine für den Autoskooter, eine für das Riesenrad — auf meine Jeans gelegt hatte. Er hatte mir auf diese Weise mitzuteilen versucht, daß er wußte, was im Autoskooter geschehen war; und offenbar wußte er ebenso wie ich, daß sich am Riesenrad etwas zusammenbraute.
Er konnte die Trolle sehen, und er spürte die düstere Ausstrahlung des Riesenrades, auch wenn seine übersinnlichen Kräfte vermutlich nicht so stark ausgeprägt waren wie die meinigen.
Er war der erste Mensch mit übersinnlichen Kräften, der je meinen Weg gekreuzt hatte, und daß ich einmal jemandem begegnen würde, der wie ich die Tarnung der Trolle durchschauen konnte, hätte ich überhaupt nie zu hoffen gewagt. Ich wurde von einem Gefühl der Brüderlichkeit überwältigt, das mir Freudentränen in die Augen trieb. Ich hatte den so verzweifelt ersehnten Kameraden gefunden. Ich war nicht mehr allein.
Doch warum gab Joel sich nicht deutlich zu erkennen, warum bediente er sich so seltsamer indirekter Methoden? Offenbar sollte ich nicht wissen, wer er war. Aber warum nicht?
Ganz einfach... weil er nicht mein Freund war. Ich begriff plötzlich, daß Joel Tuck in dem Kampf zwischen Menschen und Trollen möglicherweise nur ein neutraler Beobachter war. Schließlich hatten Menschen ihn schlimmer behandelt als Trolle, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil er mit Menschen tagtäglich zusammenkam, mit Trollen hingegen nur gelegentlich.
Von der Gesellschaft ausgestoßen, geächtet wie ein Aussätziger, konnte er nur innerhalb der Freistatt des Rummelplatzes in Würde leben. Wäre es da nicht verständlich, wenn er keinerlei Grund sähe, sich in diesem Krieg auf die Seite der Menschen zu schlagen? Wenn dem so war, hatte er mir nur deshalb geholfen und meine Aufmerksamkeit nur deshalb auf das Riesenrad gelenkt, weil bei diesen Anschlägen der Trolle auch Schausteller in Mitleidenschaft gezogen wurden — die einzigen Menschen, mit denen er sich solidarisch fühlte.
Und er wollte sich mir nicht zu erkennen geben, weil er spürte, daß mein Rachefeldzug gegen die Dämonen sich nicht nur innerhalb des Jahrmarktsgeländes abspielte. Er wollte nicht in einen größeren Konflikt verwickelt werden. Er wollte nur kämpfen, wenn sein eigenes kleines Territorium vom Feind bedroht war.
Er hatte mir einmal geholfen, aber er würde mir nicht immer helfen.
Im Grunde genommen war ich nach wie vor allein.
Der Mond war untergegangen. Die Nacht war sehr finster.
Müde stand ich auf und begab mich zu dem Umkleideraum unter der Tribüne, wo ich mir zunächst gründlich die Hände wusch und meine Fingernägel säuberte, was eine gute Viertelstunde Zeit in Anspruch nahm. Dann duschte ich ausgiebig, bevor ich todmüde zu meinem Wohnwagen wankte.
Mein Zimmergefährte, Barney Quadlow, schnarchte laut.
Ich zog mich aus und legte mich ins Bett, physisch und psychisch total erschöpft.
Das Glück, das ich beim Zusammensein mit Rya Raines empfunden hatte, war nur noch eine schwache Erinnerung, obwohl wir uns vor weniger als zwei Stunden getrennt hatten.
Der danach erlebte Schrecken war lebendiger und überdeckte die Freude. Jetzt fiel mir beim Gedanken an Rya vor allem ihre Schwermut ein, ihre tiefe und mir unbegreifliche Traurigkeit, denn ich wußte, daß Rya früher oder später die Ursache einer weiteren kritischen Situation für mich
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