Zwielicht
Shockville einen Besuch abzustatten und mit dem rätselhaften Joel Tuck zu sprechen, aber dann entschied ich mich doch gegen ein übereiltes Vorgehen. Auf dem Rummelplatz ging es an diesem letzten Tag besonders turbulent zu; drei- bis viermal soviel Menschen wie sonst drängten sich auf dem Gelände. Und was ich Joel zu sagen hatte, eignete sich nicht für die Ohren der Besucher. Außerdem befürchtete ich — oder war sogar fast sicher —, daß er sich wie eine Auster verschließen würde, wenn ich ihn allzusehr bedrängte. Möglicherweise würde er behaupten, von Trollen und heimlichen Beerdigungen bei Nacht überhaupt nichts zu wissen, und ich würde vergeblich gegen eine Mauer anrennen. Ich sah in Joel einen wertvollen potentiellen Verbündeten — einen Verbündeten und Freund und seltsamerweise auch eine Vaterfigur —, und ich wollte ihn nicht vergraulen. Ich spürte, daß ich ihm Zeit lassen mußte, mich besser kennenzulernen, sich eine feste Meinung über mich zu bilden. Wahrscheinlich hatte er vor mir nie einen Menschen getroffen, der wie er selbst die Trolle sehen konnte, so wie umgekehrt auch ich nie zuvor jemandem begegnet war, der diese undankbare Gabe besaß, und irgendwann würde seine Neugier bestimmt über seine Zurückhaltung siegen. Bis dahin mußte ich mich eben gedulden!
Deshalb ging ich nach einem Abendessen im Imbißstand zum Wohnwagen und schlief zwei Stunden. Diesmal hatte ich keine Alpträume. Ich war viel zu müde, um überhaupt etwas zu träumen.
Kurz vor acht nahm ich wieder meinen Platz am ›Lukas‹ ein. Die letzten fünf Stunden vergingen schnell und waren sehr einträglich. Der gewaltige Menschenstrom führte eine Menge Banknoten und Münzen mit sich, und einige davon angelte ich für Rya Raines heraus. Erst gegen ein Uhr nachts leerte sich der Rummelplatz allmählich.
Im Schaustellerjargon wird der Kehraus oft auch als ›Häutungsnacht‹ bezeichnet, auf die jeder sich freut, denn dieses Völkchen hat nun einmal etwas Zigeunerhaftes im Blut. Der Abbruch der Vergnügungsstadt entspricht der Häutung einer Schlange, und so wie diese sich dadurch stets erneuert, so fühlen sich auch die Fahrensleute durch die Aussicht auf neue Orte wie neugeboren.
Marco holte die Tageseinnahmen ab, damit ich sofort mit dem Abbau des Lukas beginnen konnte. Hunderte anderer Schausteller — Konzessionäre und Hilfsarbeiter, Ausrufer und Clowns, Zwerge und Kraftmenschen, Köche und Tänzerinnen, alle außer den Kindern und ihren Babysittern — waren ebenfalls damit beschäftigt, Fahrgeschäfte, Buden und Stände abzubauen und zu verladen. Die kleine Berg- und Talbahn, eine Rarität bei Wanderunternehmen, wurde unter endlosem Kling-Päng-Klirr-Bumm zerlegt, ein Geräusch, das anfangs nervte, an das man sich aber nach einer Weile gewöhnte wie an atonale Musik und das man schließlich überhaupt nicht mehr wahrnahm. Das große Clownsgesicht am Lachkabinett bestand aus vier Teilen, die nacheinander abgenommen wurden, wobei die gelbe Nase zuletzt an die Reihe kam, was mich an das bizarre Verschwinden der Lachkatze aus ›Alice im Wunderland‹ erinnerte, von der bekanntlich das Grinsen am längsten zu sehen war. Ein gefräßiges Ungeheuer von den Ausmaßen der Dinosaurier mußte wohl ein Stück des Riesenrads verschlungen haben. In Shockville wurden die fünf Meter hohe Leinwände eingeholt, auf denen die ›Menschenwunder‹ abgebildet waren, und für kurze Zeit schienen die zweidimensionalen Abbildungen zu dreidimensionalem Leben zu erwachen, die mißgestalteten Gesichter und Körper schienen zu winken, zu lachen, zu schielen, zu tanzen und zu grinsen, bevor sie aufgerollt wurden. Das unsichtbare Monster hatte sich inzwischen schon den zweiten großen Bissen vom Riesenrad einverleibt. Ich half mit, Ryas andere Stände abzubauen, und machte mich danach überall nützlich, wo noch ein Handlanger benötigt wurde. Wir zerlegten Holzwände, falteten Zelte zusammen, nahmen Verstrebungen auseinander, erzählten uns bei der Arbeit Witze, schürften Knöchel auf, spannten Muskeln an, schnitten uns in die Finger, nagelten Kisten zu, wuchteten Kisten in Lastwagen, keuchten, schwitzten, fluchten, lachten, tranken Mineralwasser und kaltes Bier, sangen Lieder, lockerten Schrauben, lösten Knoten, rollten Kabel auf... und als ich wieder zum Riesenrad hinüberschaute, war es bis auf den letzten Knochen aufgefressen.
Rudy Morton, der ›Rote‹, dem ich gleich am ersten Morgen begegnet war, gab als Chefmechaniker
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