Zwielicht
ausgegraben hätte — wäre seine Halswunde dann verheilt, hätte sein Blut sich auf magische Weise vermehrt? Hätte er in einigen Wochen, wenn das Jahrmarktsgelände menschenleer sein würde, eine grausige Version der Auferstehung des Lazarus inszeniert und sein eigenes Grab von innen geöffnet?
Ich spürte, daß ich am Rand eines psychischen Abgrunds dahin wankte. Wenn ich nicht schon wahnsinnig war, hatte ich mich diesem Zustand noch nie so sehr genähert wie jetzt.
Vor Frustration grunzend, begann der nicht atmende und doch lebende Leichnam, der allem Anschein nach nicht sehr kräftig war, mit langsamen unkontrollierten Bewegungen seinen Unterkörper auszugraben. Er ließ mich keinen Moment aus den schillernden Augen, beobachtete mich intensiv unter der niedrigen erdbeschmierten Stirn hervor. Er war noch nicht kräftig, nein, aber er wurde zusehends kräftiger, während ich noch immer geduckt dastand, vor Schrecken wie gelähmt. Er schob die Erde immer eifriger beiseite, und die rote Glut in seinen Augen nahm an Intensität deutlich zu.
Das Messer.
Die Waffe lag neben dem Grab. Die Glühbirne über der Box schwankte im Wind an ihrem Kabel hin und her, und die Stahlklinge reflektierte dieses Licht. Es sah fast so aus, als züngelten Flammen über das Metall, das sich dadurch in ein mächtiges Zauberschwert zu verwandeln schien. Und tatsächlich war das einfache Wurfmesser in diesem düsteren Augenblick für mich genauso wertvoll wie König Artus' Excalibur. Aber um an das Messer heranzukommen, mußte ich mich in Reichweite des halbtoten Wesens begeben.
Tief in seiner zerfetzten Kehle stieß der Leichnam schrille, gackernde Laute aus, die sich wie Gelächter anhörten — wie das Gelächter von Irrenhausinsassen oder von Verdammten.
Er hatte ein Bein schon fast freigelegt.
Einem plötzlichen Entschluß folgend, machte ich einen Satz auf das Messer zu.
Das Wesen kam mir jedoch zuvor, schwenkte hölzern einen Arm und schlug mit der Handkante gegen die Waffe, die funkelnd durch die Sägespäne flog und mit einem leisen Klirren in der Dunkelheit unter einer Ecke der Plattform verschwand.
Einen unbewaffneten Nahkampf zog ich nicht einmal in Erwägung. Ich wußte, daß ich dabei gegen einen Zombie nicht die geringste Chance hätte. Es wäre genauso hoffnungslos wie der Versuch, sich aus Treibsand zu befreien.
So langsam und schwach die Kreatur auch zu sein schien — sie würde sich rein defensiv verhalten, bis ich völlig erschöpft wäre, und dann würde sie mich mit harten Schlägen umbringen.
Das Messer war meine einzige Chance.
Ich stürzte an dem flachen Grab vorbei, und das tote Ding packte mein Bein mit einer eisigen Hand, deren Kälte sofort durch meine Jeans bis auf die Haut drang, aber ich trat nach seinem Kopf, riß mich los und taumelte auf die andere Seite der etwa dreieinhalb Meter langen Box. An der Stelle, wo das Messer unter der Plattform verschwunden war, legte ich mich flach auf den Bauch und schob meinen Arm in den Zwischenraum. Ich tastete umher, fand Erde und Sägespäne und Kieselsteine und einen alten krummen Nagel, aber kein Messer. Ich hörte den lebenden Leichnam hinter mir keuchen, schnaufen und grunzen, während er die Erde beiseite warf und seine Glieder befreite. Ich rückte noch näher an die Plattform heran, bis die Ecke eines Brettes sich mir schmerzhaft in die Schulter bohrte, und versuchte einige Zentimeter tiefer vorzudringen, versuchte mit den Fingerspitzen nicht nur zu tasten, sondern gleichsam zu sehen, stieß aber nur auf ein kleines Stück Holz und ein knisterndes Zellophanpapier. Mich quälte der Gedanke, daß ich den heißersehnten Gegenstand vielleicht nur um Haaresbreite verfehlte, und irgendwie schaffte ich es, mich weitere fünf Zentimeter vorzuschieben, aber es nutzte noch immer nichts, kein Messer, auch nicht etwas weiter rechts und links, nur Luft und Schmutz und ein trockenes Grasbüschel, und jetzt waren hinter mir babbelnde und kichernde Laute und schwere Schritte zu vernehmen, und ich wimmerte, hörte mich selbst wimmern und konnte doch nicht aufhören — noch ein Zentimeter! —, und etwas stach mich in den Daumen, endlich, die scharfe Messerspitze, und ich packte sie mit Daumen und Zeigefinger, zog sie unter der Plattform hervor und umklammerte den Griff — doch bevor ich aufstehen oder mich auch nur auf den Rücken rollen konnte, beugte sich der Leichnam über mich, packte mich am Kragen und bei den Jeans, hob mich mit weit mehr Kraft, als ich ihm
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