Zwielicht
bedeutet das?« fragte ich mich.
Das Spiegelbild gab keine Antwort.
»Was, zum Teufel, steht uns bevor?« wollte ich wissen.
Mein Gefährte im Spiegel wußte es entweder nicht oder wollte seine Geheimnisse nicht preisgeben.
Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Rya war ihrem Alptraum noch nicht entronnen. Sie hatte sich halb aufgedeckt, ihre Beine bewegten sich, so als würde sie rennen, und sie murmelte »Bitte, bitte« und rief »Oh!«, und sie umklammerte mit geballten Fäusten das Leintuch und schüttelte heftig den Kopf.
Ich kroch ins Bett.
Ärzte, die sich mit Schlafstörungen befassen, sagen, daß unsere Träume überraschend kurz sind. So lange ein Alptraum auch zu dauern scheint, in Wirklichkeit dauert er höchstens einige Minuten, meistens sogar nur 20 bis 60 Sekunden. Rya hatte diese Aussagen der Spezialisten offenbar nicht gelesen, denn sie verbrachte die zweite Hälfte der Nacht damit, diese Aussagen ad absurdum zu führen. Ihr Schlaf wurde durch eine ganze Reihe von Phantomfeinden, eingebildeten Kämpfen und Verfolgungsjagden gestört.
Ich beobachtete sie im bernsteinfarbenen Licht der Nachttischlampe eine halbe Stunde lang. Dann schaltete ich die Lampe aus und lauschte im Dunkeln eine weitere halbe Stunde. Mir wurde klar, daß sie sich im Schlaf genausowenig richtig erholen konnte, wie es bei mir der Fall war. Schließlich streckte ich mich aus, und die Matratze übermittelte mir jedes krampfhafte Zucken, das von Ryas schrecklichen Erlebnissen im Traum zeugte.
Ich fragte mich, ob sie auf einem ihrer Friedhöfe war.
Ich fragte mich, ob es der Friedhof auf dem Hügel war.
Ich fragte mich, wer oder was sie zwischen den Grabsteinen verfolgte.
Ich fragte mich, ob ich das war.
12 - Erinnerungen an einen Oktober
Aus weit geöffneten Lastwagen und Kisten wurde der Rummelplatz auf dem Jahrmarktsgelände von Yontsdown hervorgezaubert, so als gäbe es dafür irgendeinen märchenhaften Mechanismus, konstruiert von jenen geschickten Schweizer Handwerkern, die für ihre ungemein komplizierten Glockenspiele mit lebensgroßen Figuren berühmt sind. Am Sonntag abend um sieben Uhr hätte man glauben können, es hätte nie eine ›Häutungsnacht‹ gegeben, so als blieben wir die ganze Saison über an einem Ort, während eine Stadt nach der anderen zu uns kam. Schausteller sagen, daß sie gerne herumreisen, Schausteller sagen auch, daß sie nicht leben könnten, wenn sie nicht mindestens einmal wöchentlich ihren Aufenthaltsort wechseln würden, und Schausteller vertreten ganz ernsthaft die Philosophie der Landstreicher, Zigeuner und Ausgestoßenen, Schausteller sind sentimentale Fans von Geschichten und Legenden über das Leben am — manchmal gefährlichen — Rand der Gesellschaft, aber wohin sie auch immer gehen, sie haben stets ihr Dorf im Gepäck. Ihre LKWs, Wohnwagen, Pkws, Koffer und Taschen sind vollgestopft mit tröstlich vertrauten Dingen, und ihr Respekt vor der Tradition ist sogar noch ausgeprägter, als man ihn in den Kleinstädten von Kansas antreffen kann, wo sich in Generationen nichts verändert. Schausteller freuen sich auf den Kehraus, weil er ein Beweis für ihre Freiheit ist, im Gegensatz zur tristen Gefangenschaft der Besucher, die immer zurückbleiben müssen. Aber schon nach einem Tag auf den Straßen werden Schausteller nervös und unsicher, denn obwohl die Romantik des ständigen Wanderlebens Bestandteil der Zigeunerphilosophie ist, so sind die Straßen als solche doch das Werk und das Eigentum der ›normalen‹ Gesellschaft, und Fahrensleute müssen sich an die von der Gesellschaft vorgegebenen Regeln halten. Und weil Schausteller zumindest im Unterbewußtsein genau wissen, wie schutzlos sie unterwegs sind, bereitet ihnen die Ankunft an einem neuen Ort sogar noch mehr Freude als der Aufbruch. Der Rummelplatz ist immer viel schneller auf- als abgebaut, und keine Nacht der Woche kann es auch nur entfernt mit der ersten Nacht an einem neuen Ort aufnehmen, wenn einerseits die Wanderlust gerade befriedigt wurde und man sich andererseits wieder in einer Gemeinschaft geborgen fühlen kann. Sobald die Zelte errichtet und die hölzernen Einzelteile der verschiedenen Attraktionen zusammengefügt sind, sobald die Fantasiewelt mit Hilfe von Messing, Chrom, Plastik und elektrischem Licht neu erstanden ist und gegen alle Angriffe der Realität Schutz bietet, verspüren Schausteller einen tieferen Frieden als zu jeder anderen Zeit.
Im Wohnwagen von Irma und Paulie Lorus, wohin Rya und
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