Zwielicht über Westerland
Zuckerschicht um ihre Kleidung, ihr Haar und ihre Haut legte. Mit einer Hand die brennenden Augen vor dem Licht schützend, verfolgte sie Alex’ Silhouette, die sich immer weiter von ihr entfernte.
Nichts rechtfertigte sein Verhalten, auch nicht die Worte, die sie ihm an den Kopf geschleudert hatte. Körperliche Gewalt verabscheute sie zutiefst. Sie hatte gewusst, dass er aufbrausend, vielleicht sogar cholerisch war, aber das heute war etwas anderes gewesen. Sie musste ihn in seinen Grundmauern erschüttert haben. Da sie sich einiges an den Kopf geworfen hatten, fragte sie sich, was ihn wohl am meisten getroffen hatte.
Nachdem Alex nur noch als ein Punkt am Horizont zu entdecken war, setzte sie sich auf und kroch weiter an den Strand. Dort breitete sie ihre Kleidung zum Trocknen aus. Als nach einer Stunde eine junge Frau vorbeilief, bat sie diese, ein Taxi zum Lokal zu bestellen. Auf dem Parkplatz stand immer noch Alex’ Wagen, und nachdem sie sich so gut es ging vom Sand befreit hatte, stieg sie in das Taxi und fuhr nach Hause.
Auf ihrem kleinen Balkon hockte sie mit angezogenen Beinen auf dem Liegestuhl und versuchte, das eben Erlebte zu begreifen. Eigentlich hatte sie sofort unter die Dusch gehen wollen, aber nachdem sie die nur halbwegs trockenen Sachen auf dem Balkon ausgezogen hatte, fehlte ihr die Kraft. Ihre Beine umklammernd zitterte sie und rieb sich die Gänsehaut.
Was sollte sie tun, wenn Alex jetzt vorfahren würde? Hatte er das Recht gehabt, sie zu strafen? Warum tat er es? Als ihr Pate, ihr Clanführer oder ihr Freund oder vielleicht als Mann, als der Stärkere? Nein. Sie schüttelte stumm den Kopf. Er hatte kein Recht dazu.
Sie hatte ihn verletzt und erschreckt. Warum konnte sie nicht verstehen? Würde er sie von der Insel holen? Allein schon, umseinen Stand zu waren? Oder in dem Glauben, den Clan und die gesamte Gemeinschaft schützen zu müssen? Würde er sie zwingen, notfalls mit Gewalt? Vielleicht hätte sie das mit den Kindern nicht sagen sollen, ging es ihr durch den Kopf. Mitglieder der Gemeinschaft konnten keine Kinder zeugen oder empfangen, sie wusste es genau. Es war diese eine Sache, die er ihr nie geben könnte, würde er es auch noch so sehr wollen.
Den nassen Zopf öffnend überkamen sie langsam Zweifel. Hatte sie ihn nicht zuvor mit Sand beworfen und damit den körperlichen Übergriff angefangen? Dabei hatte sie ihn nicht einmal treffen wollen. Hatte er sie ertränken wollen? Nein, dass wollte sie einfach nicht glauben.
Mit klappernden Zähnen entschloss sie sich nun doch, unter die Dusche zu gehen. Sie hatte ihn als Mann zurückgewiesen, hatte jeden Annäherungsversuch wortlos beiseite geschoben, regelrecht ignoriert. Das war dumm gewesen. Was wäre geschehen, wenn sie rechtzeitig ein klares Wort gesprochen hätten? Vielleicht hatte sie nicht nur seinen Stolz verletzt, sondern alles zerstört, was ihn noch daran erinnerte, ein Mensch zu sein, kein von Sucht gelenktes Unwesen.
Das heiße Wasser lief über ihr Gesicht und vermischte sich mit ihren Tränen. Sand knirschte zwischen ihren Zähnen und auf dem Wannenboden. Lange stand sie so da und fragte sich, ob sie wirklich irgendwann sterben wollte. Einen Wimpernschlag lang hatte sie geglaubt, dass sie heute sterben würde, ertrinken im nur kniehohen Wasser. Durch ihn, der ihr die Unsterblichkeit gebracht hatte. Welch Ironie.
Auf der Toilette sitzend föhnte sie ihre Haare kopfüber, so vermied sie es, sich im Spiegel betrachten zu müssen. Warum hatte sie Alex gegenüber ständig Schuldgefühle? Lag es an den früheren Vertrautheiten mit ihm? Sie hatten es beide gewollt und sich nie etwas versprochen, oder? Sicher war sie sich nicht, was ihn betraf.
Während sie das bodenlange weiße Nachthemd überstreifte, welches aussah wie eines zu ihrer realen Jugendzeit, verließ sie das Bad und schaltete das Licht im Wohnzimmer ein. Sie schien lange auf dem Balkon gesessen zu haben, denn es dämmerte bereits. Auf der Schwelle zum Flur blieb sie stehen, um den Schritten zu lauschen, die aus der Etage über ihr kamen. Dem Schritt und dem Geräusch nach handelte es sich um Damenpumps, die sich nun durch das hallende Treppenhaus bewegten. Dann fiel die Eingangstür ins Schloss und erinnerte sie daran, dass sie die Wohnungstür noch abschließen wollte. Mit dem Schlüssel in der Hand trat sie auf ihre Fußmatte, als sie wieder Schritte hörte. Diesmal langsame und leise, schwere Schritte. Ihr Herz begann wie wild zu schlagen, während sie
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