Zwielicht über Westerland
glücklichen Kindheit flackerten kurz auf und verschwanden wieder. Heute jedoch musste sie den Gedanken zu Ende denken. Das Ende war leider ein Drama, kein Unterhaltungsfilm. Selbst wenn heute eine Wende in ihrem Leben eintreten würde, würde es ein Drama bleiben, weil nichts, was noch hätte passieren können, das ändern würde, was geschehen war.
Noch heute konnte sie sich den Geruch des Unglücks aufrufen. Hätte sie sich nur verabschieden können, aber wer rechnete schon mit einem Brand. Nicht einmal beerdigen konnte sie ihre Eltern, denn Alex hatte sie und Jan vorher geholt. Bis heute blieb Alex allerdings dabei, dass er Jan nicht gebissen hatte. Sie war sich nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte. Auch das war ein Grund, warum sie nach Sylt zurückgekehrt war. Wer hatte Jan zum Vampir gemacht und einfach liegen lassen? Und warum überhaupt? Es gab keinen Grund. Wer wollte ihn im Clan haben, aber seinen Ehrenkodex nicht erfüllen? Immer wieder gab es auf dieses Rätsel nur eine Antwort. Es musste Alex gewesen sein. Und er hatte es für sie getan, damit sie nicht auch noch von Jan getrennt sein musste. Damit sie das Leben nicht losließ.
Die Leute hatten damals geglaubt, dass die Kinder aus Angst vor Obdachlosigkeit und Trauer ins Wasser gegangen waren. Alex hatte auch geglaubt, Sophie wollte sich das Leben nehmen. Nie hätte sie Jan alleine gelassen oder erlaubt, dass ihm etwas passieren würde. Sie hätte für ihn gesorgt.
Damals hatte sie die Stellung im Haushalt von Dr. Hansen aus Westerland angenommen, nachdem sie sich vorgenommen hatte, niemals zu heiraten. Ihr Verlobter hatte auf einem holländischen Schiff angeheuert und war nicht heimgekommen. Es gab keine Nachricht von ihm, auch keine Todesnachricht. Nicht nur die See war gefährlich, die Häfen waren manchmal viel heimtückischer. Es gab keine Untersuchung, keinen Abschied, keine Trauerfeier.
Vielleicht hatte er auch einfach nur eine andere Frau in einem anderen Land kennengelernt. Wer wusste das schon.
Seine Mutter hatte allen erzählt, sie hätte ihn in einer stürmischen Nacht vor ihrem Bett stehen sehen. Ein Aberglaube, der sehr verbreitet war. Die Seeleute kamen als Geister zu ihren Lieben, um sich zu verabschieden.
Für Sophie war es ein erster schwerer Schicksalsschlag gewesen, egal, was ihm passiert war. Er hatte sie verlassen und das passte nicht in den Plan, den sie gemeinsam geschmiedet hatten. Alles brach zusammen. Die Leute nannten es schlicht: auf See geblieben. So einfach war es. Unspektakulär für die, die nicht betroffen waren.
Orientierungslos war sie froh, als Dr. Hansen sie aus ihrem Dämmerzustand holte und ihr Aufgaben in seinem Haushalt und seiner Praxis verordnete.
Sie fand die Straße auf Anhieb, obwohl sie sich nur nach Himmelsrichtung und Kirchturm richtete. Ein neues Haus war auf dem alten Grundstück gebaut worden, ebenfalls mit Reetdach. Ein schönes Haus im alten Stil, mit rotem Stein und grünen Fenstern. Es hätte ihren Eltern gefallen.
Sophie lehnte ihr Fahrrad an den Zaun des gegenüberliegenden Hauses. Langsam überquerte sie die Straße und betrachtete den wild romantisch angelegten Garten. Ihre Mutter hatte Blumen über alles geliebt. Plötzlich war es nicht mehr ganz so schwer, denn sie entdeckte neben der langen Auffahrt, auf der ein genauso verbeultes Rad wie das ihre stand, die alte Eiche. Es war wie ein Wunder, dass sie damals nicht verbrannt war.
Die Erinnerung zeigte ihr kurz das Bild ihres Vaters, der in Arbeitshose und Jacke, mit Mütze und Pfeife bestückt, genau an dieser Eiche lehnte und paffte.
Sophie lächelte in sich hinein, lange hatte sie nicht mehr an den Baum gedacht. In seinen Ästen hatte sich Jan versteckt, wenn es Schwarzsauer zum Mittag gab. Ein hiesiges Gericht aus Schweineblut. Alles war so lange her und vieles hatte sich verändert.
Sophie nahm langsam die Hände aus den Taschen und berührte mit den Handflächen die Baumrinde. Sie fühlte sich warm und trocken an, irgendwie beruhigend. Sie war froh, hergekommen zu sein. Nach Sylt, nach Keitum, zum Grundstück ihrer Eltern. Irgendwann hätte es sowieso sein müssen. Sie würde nicht aufgeben, bevor sie die Antworten hatte, die sie so viele Jahre beschäftigt hatten.
Sie drückte ihren Körper mit seinem ganzen Gewicht gegen den Stamm, um den letzten Rest der Anspannung los zu werden.
„Ich hoffe, sie wollen den Baum nicht umschubsen. Dann nehme ich schnell mein Fahrrad weg“, kam eine mit leichtem Akzent versehene
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