Zwielicht über Westerland
vielleicht noch als Statist. Der Großteil der Anwesenden hatte sich im Laufe des Abends bei ihr vorgestellt, alles gerettete Seelen. Einige Unfallopfer, Alkoholvergiftete, zwei Extremsportler und ein Ex-Junkie, der scherzhaft von Suchtverlagerung sprach, aber die Anwesenden wussten, wie viel Wahrheit darin steckte. Zwei Dinge verbanden sie alle. Erstens waren sie lebenslustig gewesen, wahrscheinlich zu lebenslustig, sonst wären ihnen diese Dinge nicht passiert. Und das war auch schon das Zweite, das sie gemeinsam hatten und das sie von Sophie unterschied. Sie waren es heute noch.
Wieder einmal fragte sie sich, was bei ihr verkehrt gelaufen war. Sie gehörte nicht zu ihnen, das wusste sie. Ebenso gehörte sie aber auch nicht in diese Welt da draußen.
Herr Wunk hatte es gut gemeint. Es war ein nett gemeinter Eingliederungsversuch gewesen. Die anderen konnten nichts dafür, dass er misslungen war, auch das wusste sie. Besser machte es die Sache allerdings nicht. War sie damals anders gewesen? Sie wusste es nicht mehr.
Jan war ganz anders, er verstand sie zwar, aber er sprach immer nur von Chancen wahrnehmen, Spaß haben, Neues lernen. Er war ohneErlaubnis nach Hause zurück gekehrt, warum war er sonst hier bekannt?
Sophie grübelte darüber nach, wie viel sie von ihrem Bruder wirklich wusste. Auf die Frage hin, warum er nicht vor ihr umgesiedelt sei - dann hätte Alex sie sicherlich leichter nachziehen lassen- hatte er lachend geantwortet: „Nee, mir war es lieber, dir zu folgen. Dann kann er auf dich sauer sein, das verfliegt schneller.“
Sie hatte sich darüber geärgert, obwohl sie wusste, dass er Recht hatte. Mit Alex würde sie sowieso noch einiges zu klären haben. Warum hatte er ihr nicht gesagt, dass Vanessa seine Kontaktperson in der Klinik war? Wollte er die Frauen gegeneinander ausspielen? Zur gegenseitigen Kontrolle? Aus Alex würde sie in weiteren hundert Jahren nicht schlau werden.
Auf der Bühne tanzten einige der Pärchen zu leiser Musik. Zu viel Lärm durften sie nicht machen, falls doch einmal jemand hier vorbei kam. Es wurde ein wenig Alkohol getrunken, obwohl ihresgleichen damit Probleme hatte. Sie selbst trank nichts, sie hatte zu schlechte Erfahrungen gemacht.
Gegen Mitternacht rief Gregor bei „Inselpizza 24h“ an und bestellte den Fahrer zum Flughafen. Eine halbe Stunde später tauchte Rouven, Gregors Freund, mit dem Pizzaauto auf. Auf dem Beifahrersitz saß, in sich zusammen gesunken, der Pizzafahrer. Zwei kleine Male an seinem Hals klärten die Lage. Nachdem sie die Pizzen ausgeladen hatten, fuhren sie ihn zurück zum Flughafen und steckten ihm das Geld in die Jackentasche. Auf Sophies besorgte Frage hin, ob es nicht etwas riskant sei, winkten sie ab. Es war bereits das dritte Mal in diesem Jahr, dass sie die Nummer abgezogen hatten. Bei Lieferungen von 20 Pizzen und einigen Getränken war ein verschlafener, sich nicht erinnernder Fahrer unwichtig. Rouven brauchte sein Essen nicht zahlen. Er hatte sich freiwillig für den Fahrerjob angeboten. So ganz freiwillig war es zwar nicht, denn erhatte an diesem Tag einen ziemlichen Druck. Jetzt blühte er richtig auf.
Gegen 2 Uhr war Sophie entschlossen zu gehen, selbst auf die Gefahr hin, laufen zu müssen. Jan war nicht aufzufinden. Vielleicht streifte er über das Gelände; Spukgebäude waren nach seinem Geschmack. Und dieses Gelände bot mehr als eine Gelegenheit zur Gänsehaut. Sie bedankte sich bei den anderen und besonders bei Gregor, der sofort anbot, sie zu fahren.
„Lass uns los, ich will noch in die Klinik“, flüsterte er. „Meine Gedanken sind sowieso die ganze Zeit bei Anna. Geh schon zum Auto, ich komm gleich.“
Einige der Kerzen waren bereits erloschen und Sophie tastete sich in Richtung der nächsten Lichtquelle. Als sie endlich den Ausgang erreicht hatte, war sie froh, wieder frische Luft atmen zu können. Ihre Füße suchten sich einen Weg durch das Gras. Nur langsam löste sich die riesige Schattenburg in Gebäude, Büsche und schließlich Gregors Auto auf.
Nur noch nach Hause und auf morgen freuen, das war alles, was sie wollte. Die Innenbeleuchtung des Kleinwagens ging an, als sie die Beifahrertür öffnete. Auf dem Rücksitz saßen Jan und Vanessa und knutschten. Nach einer kurzen Pause, die sie einlegten, um Sophie zu begrüßen, führten sie ihre Beschäftigung bis vor Sophies Tür fort. Plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher, ob ihr Bruder ihr überhaupt nachgezogen war. Augenscheinlich hatte er ganz
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