Zwielicht über Westerland
eigene Gründe. Und seine Wege waren gerne die bequemen, ausgetretenen. Sie hatte ihn verwöhnt, das wusste sie selbst. Hatte ihm die Dinge zugespielt bei dem Versuch, ihm die Eltern zu ersetzen. Ihren Schmerz hatte sie als Maßstab genommen, um ihn zu trösten. Alles leichter zu machen für ihn. Sie hatte versucht, Ersatz für den Paten zu sein, den er nie hatte, um ihm den Wandel zum neuen Leben zu erleichtern. Natürlich auch wieder gemessen an ihrer Qual, sich anzupassen. War das alles richtig gewesen? Hatte sie es für ihn getan, oder für sich? Zweifel nagten an ihr.
Zu Hause zwang sie sich, in den Spiegel zu sehen. Warum musste sie immer alles in Frage stellen, gerade heute so melancholisch sein? Hatte sie Angst vor morgen? Hatte sie Angst vor Veränderungen? Quatsch, es änderte sich ständig etwas. Und hatte sie das nicht auch so gewollt? Sie suchte sich, in den großen blauen Augen, die ihr aus dem Spiegel traurig entgegensahen. War es vielleicht die Enttäuschung darüber, dass sie nichts erreicht hatte? Sie wollte Steine ins Rollen bringen und schaffte es nun nicht einmal, sie einzuholen. Jan hatte oft mit ihr telefoniert, aber nichts verraten. Hatte sie ihm überhaupt von Vanessa erzählt? War sie nicht selber Schuld, wenn sie immer alles im Alleingang machen wollte? Eigentlich hatte sie nur Kummer von Jan fernhalten wollen. Vielleicht sollte sie damit aufhören, denn das tat er schon selbst. Das Beispiel mit Alex und dem Umzug hatte es gezeigt. Oder war sie etwa neidisch?
Sie wandte ihren Blick vom Spiegel ab und putzte sich die Zähne. Als sie sich in ihr Bett legte, wusste sie, was mit ihr los war. Es war die Andersartigkeit, die ihr heute Abend wieder einmal bewusst geworden war. Morgen würde sie zu Matt gehen, obwohl sie kaum Hoffnung hatte, dass ein Paar aus ihnen werden würde. Was hätte er gesagt, wenn er sie heute Abend gesehen hätte? Junge Leute an sich waren manchmal schwer zu verstehen, aber Pizzafahrer angreifende Geschöpfe der Nacht? Wie sollte er das jemals begreifen? Ein Doktor der Medizin, der sich für ein Leben entschieden hatte, in dem er anderen helfen wollte. Er kämpfte bei seinen Forschungen gegen Mukoviszidose, das hieß, er kämpfte gegen einen unsichtbaren Riesen. Vielleicht würde er sein ganzes Leben damit beschäftigt sein, nur um den Kranken ein bisschen Zeit zu verschaffen. Ein bisschen mehr Zeit, ein bisschen mehr Leben. Würde sie ihm mit ihren Problemen da nicht lächerlich vorkommen? Sie kannte zwar Schmerzen, wusste aber um deren baldige Heilung und sie hatte alle Zeit der Welt - ihrer Welt, nicht seiner. Die beiden waren einfach zu verschieden.
Alex hatte es ihr lange genug gepredigt. Für ihn waren die Nichtblutsüchtigen zweitklassig. Oft hatte sie sich gefragt, ob er jemals einer von ihnen gewesen war. Er kam ihr vor wie ein Erwachsener, der vergessen hatte, dass er jemals ein Kind war. Aber vielleicht war es der einzige Weg, mit diesem Sein, diesem langen, nicht enden wollenden Sein, fertig zu werden.
Ihr Vater hatte ihr einmal gesagt: „Hadere nicht mit deinem Schicksal. Nimm es an und mach was daraus, sonst macht es etwas aus dir, mein Kind.“
Damals hatte sie sich bedankt, wenn sie den Sinn auch nicht verstanden hatte. Seither hatte sie der Rat oft getröstet. Auch jetzt tröstete sie der Gedanke an ihre Eltern. Sie hatten ihren Kindern nichts mitgeben können, keine richtige Ausbildung, keine Erbschaft, nicht einmal ein Abschiedswort. Aber nachdem sie gegangen waren, war das Wertvollste geblieben: ihre Liebe. Wem würde ihre Liebe einmal Trost, Halt, Hoffnung geben, fragte sich Sophie. Niemandem, so wie es bis jetzt aussah.
„Wie armselig“, seufzte sie zu sich selbst. Sie schaffte es nicht einmal zu Lebzeit, die sich wie ein Kaugummi hinzog, das hervorzubringen, was ihre Eltern ihr über den Tod hinaus gaben.
Doch bevor sie noch weiter grübeln konnte, breitete sich die Müdigkeit in ihren Gliedern aus und sie schlief ein.
Am Morgen sah die Welt schon besser aus. In ihrem Alter hätte sie das wissen müssen, schalt sie sich. Reife und Verstand halfen nur leider wenig bei Einsamkeit. Also ignorierte sie die Gedanken des Vortages und machte sich für ihren Besuch fertig.
Sie legte beide Arme um ihn. Ganz fest, um sich zu halten. Mit geschlossenen Augen stand sie da und atmete die frische Luft ein. Ihr Kopf war wieder klar, ihre Gedanken frisch und munter, wie dieser Sonntagmorgen. Seine raue Oberfläche kratzte an ihrer zarten Wange, aber das
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