Zwielichtlande - Kellison, E: Zwielichtlande
seinem eigenen Büro. Er gab den Code ein und ging hinein. Ein Blick auf den Monitor verriet ihm, dass sich Jacob innerhalb der letzten Stunde an die andere Zellenwand zurückgezogen hatte, wo er gelangweilt den Kopf hängen ließ. Was gut war.
Dann musterte er sorgfältig seinen Schreibtisch. Die Akten, die Spuren zu Talia O’Briens Aufenthaltsort enthielten, konnten geschreddert werden. Sicherheitsberichte mussten durchgesehen werden. Da war das Budget. Die Korrespondenz mit einem halben Dutzend Außendienstmitarbeitern. Und er musste den aktuellen Stand der globalen Geisterüberwachung prüfen, um über den Zuwachs an Geistern, ihre Bewegung, ihre Versorgungskette und ihren Besitz auf dem Laufenden zu sein.
Die Geister organisierten sich. Sie hatten sich sogar einen netten, unschuldig klingenden Namen gegeben: Das Kollektiv.
Das Budget konnte warten. Das Kollektiv nicht. Adam tippte auf die Konsole auf seinem Schreibtisch. Auf einem topmodernen Bildschirm, der darüber an der Decke befestigt war, erschien ein dreidimensionales Bild der Welt. Unterschiedlich starke rote Linien, die wie Adern aussahen, vollzogen die Bewegungen der Geister innerhalb der USA nach. In den größeren Städten, wo ihr Fressen durch die Konzentration an Kriminalität nicht so auffiel, war das Blut geronnen.
Adam ließ ein Programm laufen, das die Wachstumsrate ermittelte. Der Computer prognostizierte anhand alarmierender Striche eine rasante Entwicklung, die Adam den Atem stocken ließ. Innerhalb – was? – eines Jahres würde das Kollektiv in jeder größeren amerikanischen Stadt zu beträchtlicher Stärke angewachsen sein. Man würde die Geister nur mithilfe eines Krieges ausrotten können.
Adam lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ob er wollte oder nicht, er durfte Dr. O’Brien unter keinen Umständen gehen lassen.
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»Schöner Ausblick mit Spuk oder ruhiges Wohnen ohne Aussicht?«, fragte Adam, während er Talias Rollstuhl aus Pattys Büro hinausschob.
Bei seiner Ankunft war Talia missmutig und schweigsam gewesen. Sie trug eine Chino, eine rosa Bluse mit einem abgerundeten Kragen und Hausschuhe. Die Sachen hatten einen biederen Schnitt und wirkten konservativ, weshalb Adam annahm, dass Patty sie ihrem Geschmack entsprechend ausgewählt und über Nacht bestellt hatte, während Talia sich erholte. Die Schuhe hatten vermutlich nicht gepasst, doch Adam fragte nicht danach, denn er wollte keinen Ärger hervorrufen. Niemand außer Patty hatte Talia dazu bringen können, sich in den Rollstuhl zu setzen, sodass sie um Punkt zwei Uhr abfahrbereit war, wobei sich ihr Widerwillen in jeder Geste ausdrückte.
»Das ist nicht Ihr Ernst«, erwiderte Talia.
»Bei Ihren Studien haben Sie doch sicher auch die Existenz von Geistern in Betracht gezogen.« Er hielt vor dem Aufzug am Ende des Flurs. Die silbernen Türen glitten auseinander und brachten Reste eines antiken Eisenkäfigs zum Vorschein, ein Hinweis auf den Ursprung des Gebäudes. Wenn Talia die Eisengitter seltsam fand, sagte sie es nicht.
»Das habe ich nicht gemeint«, erklärte sie. »Sie können nicht ernsthaft annehmen, dass ich mir freiwillig eine Gefängniszelle aussuche und Ihnen noch dabei helfe, mich hier gegen meinen Willen festzuhalten. Diese ganze ›Tour‹ ist eine Farce.«
»Sie sind keine Gefangene, Sie sind ein Mitglied unseres Teams.«
»Ich kündige.«
»Ich werde über Ihre Kündigung nachdenken, wenn Sie in der Lage sind, auf zwei Beinen zu stehen, ohne grün anzulaufen.« Die Lüge klang überzeugend, sogar freundlich, schließlich war Adam geübt.
Sie fuhren ein Stockwerk nach oben und gelangten in eine mit Marmor geflieste Halle, beherrscht von einem beeindruckenden Kronleuchter. Wie eine Sternschnuppe hing er vor einer Wand aus Mahagoni.
Adam blieb stehen, öffnete mithilfe eines Codes eine Glastür und schob sie auf eine geschwungene weiße Terrasse hinaus, die sich um die Ostseite des Gebäudes wand.
Vor dem Gebäude lagen verwilderte Rasenflächen, die sich bis in eine Baumreihe hinein erstreckten. Das natürliche, sanft geschwungene Grün traf dort auf einen dichten Tannenwald, weiter östlich spickten Weymouthskiefern den Gebirgskamm von Knob Ridge. Die feuchte und schwüle Luft hier draußen klebte an Adams Haut und Kleidung.
Talia drehte den Kopf und sah über ihre Schulter zurück. Adam folgte ihrem Blick. Das Gebäude erstreckte sich über mehrere Etagen und besaß zwei identische Seitenflügel, die jeweils von Terrassen umgeben waren.
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