Zwielichtlande - Kellison, E: Zwielichtlande
sicher, ehe du geheilt bist.«
Voller Panik begriff Talia. Man hatte ihren Schrei verstummen lassen, ihre großartige Waffe.
15
Oh, Mist. In welche Richtung? Seine Unentschlossenheit machte Adam zu schaffen. Augenblicklich spürte er einen heftigen Druck in seinem Kopf. Er griff verzweifelt nach der kalten, nassen Metallleiter. Jeder Atemzug in diesem stinkenden, verrotteten Tunnel kostete sie Zeit, die sie nicht hatten.
Er blickte zu Talia – ihr Gesicht war grau, und wenn sich ihre Brust hob, rasselten ihre Lungen. Sie hatte ihn gebraucht, und er hatte versagt. Schon wieder. Jedes Mal, wenn er versagte, starb jemand.
Nur ein Beispiel: Das Kollektiv hatte Segue nicht herausgefordert, und er hatte sich in falscher Sicherheit gewiegt. Zwar war es ihm gelungen, seine Leute aus dem Institut in West Virginia herauszuholen, aber es gab keinen Kontakt zu den anderen Büros. Vermutlich waren die Mitarbeiter dort tot. Seine Schuld. Törichterweise hatte er geglaubt, das Loft in New York wäre sicher, doch es war angegriffen worden. Talia, ihre einzige Waffe im Krieg gegen die Geister, war verletzt. Ebenfalls seine Schuld.
Jetzt lief alles auf eine Entweder-oder-Entscheidung hinaus. Oben aussteigen oder im Tunnel bleiben. Eigentlich ganz einfach.
Aber er hatte keine Ahnung.
Talia brauchte medizinische Hilfe. Die konnten sie nur dort oben finden, andererseits war keine medizinische Hilfe immer noch besser, als geschnappt zu werden und endgültig aufzugeben.
Ach zum Teufel, was sollte er nur tun?
»Pssst.«
Adam fuhr herum, zog seine Waffe und zielte in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Er hatte zu lange überlegt. Man hatte sie gefunden.
Sein Herz hämmerte in Erwartung eines Angriffs. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um Soldaten – Geister hätten ihn längst überwältigt. Er konzentrierte sich und zielte. Finstere Dunkelheit waberte durch den Tunnel. Er konnte überhaupt nichts erkennen.
Als er Talias Hand auf seinem Arm spürte, erschrak er. Er sah kurz zu ihr hinüber, woraufhin sie den Kopf schüttelte. Nein. Nicht schießen.
Er starrte zurück in die Dunkelheit. Was auch immer sich dort hinten verbarg, machte Talia keine Angst, aber er würde nicht noch einen weiteren Fehler begehen. Er packte die Waffe fester.
Talia drückte sein Handgelenk so, dass ihre Hand warm wurde. In die Schatten um ihn herum kam Bewegung, wie bei sich übereinanderschiebenden Gewitterwolken in einer mondlosen Nacht waren ihre Konturen deutlich zu erkennen. Der Gestank wurde intensiver. Er nahm unterschiedliche Fäulnisgerüche wahr, die alle ihren ganz eigenen übel riechenden Charakter hatten. In einem seltsamen Glockenspiel schlugen Wassertropfen vereinzelte Töne an.
Und in der Tiefe des Tunnels tauchte ein weißes Gesicht auf.
Ein Gespenst.
Nein. Ein junges Mädchen, das seine Augen schwarz geschminkt hatte und ihnen dadurch einen dramatischen Ausdruck verlieh. Sie musste um die – ja was sein? Sechzehn? Siebzehn?
Was zum Teufel tat sie hier unten?
Adam wollte schon auf sie zugehen – vielleicht kannte sie einen sicheren Weg aus dieser Hölle, wusste einen Ort, an dem sie sich verstecken konnten.
Aber er hielt sich zurück. Er würde nicht noch einen Fehler begehen und das junge Mädchen töten. Er konnte unmöglich das Leben eines Kindes für seinen Wunsch nach Sicherheit aufs Spiel setzen. Hier war Schluss.
Also die Leiter hinauf.
Er wandte dem Mädchen den Rücken zu und zog sich an einer Sprosse nach oben. Er musste erst den Kanaldeckel lösen, bevor er Talia die Leiter hinaufhalf. Durch die Bewegung löste sich ihre Hand von seinem Handgelenk. Es wurde heller, und die Gerüche verschmolzen wieder zu einem Einheitsbrei.
Ein leises Platschen lenkte seinen Blick nach unten. Talia ging von der Leiter weg auf das Mädchen zu.
»Nein, Talia!«
Aber sie hatte bereits ein ganzes Stück zurückgelegt. Noch ein Schritt, dann war sie in der Dunkelheit verschwunden.
Verdammt. »Talia!« Sein harsches Flüstern schlug ihm als Echo entgegen.
Keine Antwort. Ihm blieb keine andere Wahl, als ihr zu folgen und zu hoffen, dass das Kind nicht verletzt wurde oder gar Schlimmeres.
Mit drei langen Schritten war er bei ihr. So wie sie keuchte und hustete, hatte er sie leicht gefunden.
Als er sie eingeholt hatte, konnte Adam das junge Mädchen schließlich selbst sehen. Sie war wie eine Hexe gekleidet und hatte die Haare im Gothic-Stil gefärbt, schwarz mit einzelnen dunkelroten Strähnen. Ihre Haut schimmerte
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