Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
Sie hatte eine Ahnung davon, wie jemand ihre Hand drückte und sich stur weigerte, sie loszulassen, als hielte ein Seil sie im Leben fest. »Ich glaube, sie hat mich verloren.«
Ein Glitzern in den Bäumen zog Laylas Aufmerksamkeit auf sich. Es kam näher und blendete sie so sehr, dass ihre Augen tränten. Jemand kam auf sie zu.
Die seltsamen Wesen um sie herum bemerkten es ebenfalls und flüchteten in die Bäume, nur ihre Stimmen waren noch zu hören: Komme, komme, komme.
Engel? Das ginge auch. Custo konnte sie hier herausholen und dem Schattenmann Bescheid sagen.
Gerettet.
Doch aus der Dunkelheit trat ein unglaublich schöner Mann hervor. Jeder seiner Schritte war eine Augenweide. Er hatte dunkelbraune Haare und schwarze Augen und trug hauchdünne Stoffe, die seinen wundervollen Körper kaum verhüllten. Ebenso gut hätte er nackt vor ihnen stehen können. Sein Lächeln brachte sie endgültig aus der Fassung. Die anderen Wesen mochten zum Schattenreich gehören, dieser Mann war ein Schattenwesen.
»Oh, Mist«, sagte Zoe.
Eine junge Frau trat zu ihm. Sie hatte wundervolles goldenes Haar, trug eine Schere an der Taille und einen Rock, der sie wie Wasser umspülte. Hinreißend.
Eine Frau mit einem geschmeidigen nackten Körper gesellte sich zu ihnen. Sie sprach eine fremde Sprache in einer Art Versmaß.
Die Scherendame antwortete, während der Mann seinen Blick auf Zoe richtete.
Obwohl Layla die Sprache nicht kannte, verstand sie alles. Sie teilten die Beute auf. Die Scherenfrau hatte es auf sie abgesehen.
Mist, genau.
Layla hasste Namedropping, aber egal. »Wir sind gut mit dem Schattenmann befreundet. Er wird jede Minute hier sein.«
»Befreundet?«, fragte die Scherenfrau. »Bist du nicht seine Geliebte?«
Layla straffte die Schultern. Wenn die Scherenfrau so viel wusste, war ihr hoffentlich klar, dass sie sich besser von ihr fernhielt. »Ja, das auch.«
»Erst muss er dich finden.« Der Märchenmann strich lasziv über sein Schlüsselbein. Dann über seine Brust. Anschließend ließ er die Finger über seinen Bauch gleiten. Er schien sich gut zu amüsieren.
Die nackte Frau klatschte in die Hände und hüpfte auf und ab. »Ein Spiel! Ein Spiel!«
Laylas Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie brauchten Zeit. Irgendwann würde der Schattenmann sie retten. Er hatte ein Tor zur Hölle gebaut, er ließ nicht zu, dass sie in den Zwielichtlanden den Verstand verlor. Richtig? Richtig.
»Es wäre gut, wenn er bald käme«, sagte Zoe.
Und wenn er wütend war? Grund dazu hatte er. Sie hatte das Schlimmste von ihm verlangt und ihn dann dazu gezwungen, indem sie hinter Zoe hergelaufen war.
Nein.
Er ließ sie nicht im Stich.
Barfuß, huldvoll und mit gierigem Blick bewegten sich die Schattenwesen auf sie zu. Götter in ihrer Welt.
Layla brauchte Zeit.
»Lauf!«, sagte sie. Jede Sekunde zählte. Wo ist er?
Sie drehte sich um und griff Abigails anderen Arm. Zoe tat es ihr gleich, und zusammen stürzten sie sich zwischen die Bäume. Zweige zerkratzten Laylas Arme, ihre Füße stießen gegen Wurzeln. Laufen, laufen.
Wohin? Egal.
Nur tiefer in den Wald. Eine Minute, fünf Minuten, als ob Zeit hier eine Rolle spielte.
Als Layla sich umsah, hatte sich der Abstand zu den Schattenwesen, die gelassen hinter ihnen her schlenderten, nicht vergrößert.
Je weiter sie liefen, desto dichter und finsterer wurde der Wald, und die Magie wuchs zusehends.
»Schattenmann!«, schrie sie, doch ihr Rufen verhallte.
Ihr Fuß verfing sich. Sie stürzte der Länge nach hin, konnte sich gerade noch abstützen und schlidderte ein Stück auf den Händen. Sogleich drehte sie sich kampfbereit um. Nur dumme Mädchen in schlechten Horrorfilmen fielen hin, wenn Monster hinter ihnen herjagten. Zu ihren Füßen entdeckte sie den Übeltäter in Form eines länglichen Gegenstands. Das dunkle Holzstück wirkte so anders als die Bäume. Trotz der anrückenden Schattenwesen riskierte sie einen Blick, um herauszufinden, worum es sich handelte.
Am Ende des Stocks schimmerte eine scharfe, geschwungene Klinge in der Dämmerung. Sie konnte nur einem gehören: Dem Schattenmann.
Mit beiden Händen griff Layla den Schaft und hievte die Klinge nach oben. Die Sense passte zu dem Monster in ihm. Mit ihrer Statur hatte sie jedoch Mühe, die riesengroße Sichel zu bewegen.
»Du hast seine Waffe gefunden«, stellte die Scherenfrau fest, »aber dir fehlt die Kraft, sie zu benutzen.«
Wenn er kam, erwartete ihn die Sense schon. Alles war bereit. Wo
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