Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
Engel.
»Ich tue, was ich tun muss«, erwiderte der Schattenmann.
*
Als Layla durch das zentrale Atrium auf die andere Seite des Gebäudes zu Zoe lief, registrierte sie, wie hoch die Mauern von Segue aufragten. Anstelle des Daches wölbte sich über ihr ein nächtlicher Sternenhimmel, vor dem sich kahle Zweige abzeichneten.
»Was wollt ihr?«, hallte Zoes ängstliche Stimme zu ihr herüber. »Verschwindet!«
Eine mit einem Code gesicherte Tür versperrte Layla den Weg. Als sie mit zusammengebissenen Zähnen nach einer möglichen Zahlenkombination suchte, wurde die Tür plötzlich durchsichtig. Ihr Rahmen verwandelte sich in einen Torbogen, der zu dem dahinterliegenden Flur führte.
Bei jedem ihrer schweren Atemzüge wisperten leise Stimmen Komme, komme, komme, komme .
Als sie um die Ecke zu Zoes Zimmer bog, rankten braune Reben die Wände hinauf. Therese, das kleine Gespenstermädchen, stand schmollend im Weg und ballte die Hände zu Fäusten. Umgeben von der Aura einer anderen Zeit, entsprach ihre direkte Umgebung der Einrichtung des Hotels aus dem letzten Jahrhundert. Auch dort lauerten Schatten, und die rankenden Reben bildeten eine Art Naht zwischen den beiden Realitäten.
»Toter Mann, toter Mann«, begann sie zu singen.
»Ja, ja«, sagte Layla und rauschte an dem Gespenst vorbei. »Alte Kamellen.«
Therese packte sie, krallte sich an Layla fest und riss an dem Körper, den sie für sich beanspruchte. Layla spürte ein kurzes Ziehen, lief jedoch mit dem Parasiten auf dem Rücken einfach weiter. Konnte ein Gespenst einen anderen Körper bewohnen? Layla blieb nicht stehen, um es herauszufinden.
Die rechten Winkel von Flur und Wänden lösten sich auf und versanken in Schatten. Als sie die Grenze zwischen den zwei Welten erreichte, krallte Therese sich verzweifelt an sie.
Zoe stieß einen schrillen Schrei aus, und Layla hastete den Flur hinunter beziehungsweise durch das, was davon noch übrig war. Wenn Therese sie nicht losließ, musste sie die Grenze überschreiten, was sie schon vor vielen Jahren hätte tun sollen. Zoe musste verschwinden, oder sie ging in den Zwielichtlanden verloren. Genau deshalb war es dringend notwendig, dass der Schattenmann auf seinen Posten zurückkehrte.
»Lass mir deinen Körper da!«, jaulte das Kind an ihrem Ohr. »Ich brauche den Körper!«
»Das geht nicht«, erwiderte Layla. Die Sterbliche Welt verfügte über Macht; das hatte ihr der Schattenmann erklärt. Vielleicht verschaffte diese Macht ihr genug Zeit, bis er sie fand. Wenn sie zu lange in den Zwielichtlanden blieb, gab es nicht mehr viel zu finden.
Eine elektrische Welle rollte auf sie zu und zerstörte die Reste von Segue, die wie Funken in die Luft stoben. Layla spürte das Nahen der Grenze in Form eines Summens, bei dem sich ihr Magen zusammenkrampfte. Schreckliche Aufregung ergriff ihr Herz, als sie sich nach vorn lehnte, um die Grenze zu überschreiten.
Schluchzend ließ Therese von ihr ab. »Der Körper!« Ihre Stimme klang mit jeder Silbe schwächer und erstarb schließlich ganz.
Das Hotel bestand nun aus dicken dunklen Bäumen und knorrigen Ästen. Layla rannte durch den Wald in Richtung von Zoes Zimmer. Wurzeln drängten aus der Erde, um sie aufzuhalten, doch ihre Füße glitten leicht über sie hinweg.
»Hau ab, verdammt noch mal!«, kreischte Zoe aufgewühlt mit tiefer Stimme.
Dort drüben. Ein Dornenstrauch versperrte Layla den Weg, doch sie drängte weiter. Sie entdeckte Zoe und Abigail auf einer kleinen viereckigen Lichtung in der Größe von Abigails Schlafzimmer. Zoe stand in Segue-Trainingshosen, einem nicht mehr ganz sauberen T-Shirt und mit strähnigem schwarzen Haar vor ihrer Schwester. Das Gesicht war kreideblich, ihr Blick verstört und ihre Miene zugleich panisch und traurig. Sie wollte kämpfen.
Abigail hielt sich in einem verwaschenen grünen Hauskleid hinter ihr gerade so auf den Beinen. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, der Kiefer hing vor Erschöpfung schlaff herab. Während eine Schattenwolke über ihre Haut glitt, als suchte sie nach einem Zugang, gab sie ein Lebenszeichen in Form eines Wimmerns von sich. Eine zweite Schattenwolke huschte um ihre Schultern, eine dritte spann sich um ihre Waden.
Doch Zoe kämpfte nicht gegen die Schatten. Sie schlug ins Leere, als stünde etwas oder jemand vor ihr und wollte sie angreifen.
»Geh weg!«, schrie Zoe und schlug ins Nichts.
Hatte der Wahnsinn sie schon ereilt. So schnell?
»Mist!« Zoe stand vor Abigail, die jetzt
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